12 - Wer die Wahrheit sucht
»Nicht von einer erwachsenen Frau. Von einem Mädchen.«
»Es soll schon vorgekommen sein, dass alte Männer jungen Mädchen nachgestiegen sind.«
»Sie drehen mir das Wort im Mund um.«
»Dann klären Sie mich auf.«
Moullin trat von St. James weg und blickte durch den Raum zu seinen Glaskunstwerken. »Wie ich schon sagte, er hatte seine Launen. Plötzlich stach ihm irgendwas ins Auge, und er hat's mit Feenstaub übergossen, und gab demjenigen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Dann erregte was anderes sein Interesse, und er ist mit seinem Feenstaub weitergezogen. So war er.«
»Der Feenstaub war Geld, nehme ich an?«
Moullin schüttelte den Kopf. »Nicht immer.«
»Was dann?«
»Glaube.«
»Welcher Art?«
»Glaube an sich selbst. Darauf hat er sich verstanden. Das Problem war nur, dass man nach einer Weile dachte, dass sein Glaube einem was bringen würde, wenn man Glück hatte.«
»Wie Geld?«
»Ein Versprechen. Als würde jemand sagen: Pass auf, ich kann dir helfen, wenn du hart genug arbeitest, aber zuerst musst du die Arbeit tun - das harte Stück Arbeit -, dann sehen wir weiter. Das hat natürlich nie einer wirklich gesagt. Aber irgendwie hat sich der Gedanke in einem festgesetzt.«
»Auch in Ihnen?«
Seufzend sagte Moullin: »Auch in mir.«
St. James dachte darüber nach, was er über Guy Brouard erfahren hatte, über seine Geheimnisse und über seine Pläne für die Zukunft und darüber, was jeder Einzelne offenbar von dem Mann und von diesen Plänen geglaubt hatte. Vielleicht, sagte sich St. James, waren diese Aspekte des Toten - die lediglich Spiegelungen der Launen eines reichen Großunternehmers hätten sein können - in Wirklichkeit Symptome eines umfassenderen und verderblicheren Verhaltens: Eines bizarren Machtspiels, bei dem ein einflussreicher Mann, der die Leitung eines erfolgreichen Unternehmens aus der Hand gegeben hatte, sich eine Form von Macht über andere erhielt, wobei das Ziel des Spiels die Ausübung dieser Macht war. Die Menschen wurden zu Schachfiguren, die von Guy Brouard auf dem Schachbrett des Lebens herumgeschoben wurden.
Könnte das jemanden zum Mord treiben?
St. James vermutete, dass die Antwort in der Reaktion jedes Einzelnen auf diesen angeblichen Glauben Brouards an seine Person lag. Er sah sich noch einmal in der Scheune um und erkannte einen Teil der Antwort am unterschiedlichen Zustand der Glaskunstwerke einerseits und des Schmelzofens sowie der Glasbläserpfeifen andererseits - die einen liebevoll gepflegt, die anderen schnöde vernachlässigt. »Ich nehme an, er hat Sie darin bestärkt, an den Künstler in sich zu glauben«, sagte er. »War es so? Hat er sie dazu ermutigt, Ihren Traum zu verwirklichen?«
Unvermittelt ging Moullin zum Scheunentor und knipste das Licht aus. Das Tageslicht im Rücken, stand er da, eine massige Gestalt, nicht nur durch die voluminösen Kleider definiert, die er trug, sondern auch durch seine bullige Kraft. St. James konnte sich vorstellen, dass es ihm wenig Mühe bereitet hatte, die Werke seiner Töchter im Garten zu zerstören.
Er folgte ihm. Draußen drückte Moullin das Tor zu und sicherte es mit einem schweren Vorhängeschloss. Er sagte: »Er hat den Leuten eingeredet, sie wären was Größeres, als sie tatsächlich waren. Wenn sie dann Schritte gewagt haben, die sie ohne seinen Zuspruch nicht gewagt hätten... Na ja, das ist wahrscheinlich ihre Privatangelegenheit. Wen juckt es schon, wenn einer sich total verausgabt und alles auf eine Karte setzt.«
»Im Allgemeinen verausgabt sich niemand, ohne eine Vorstellung vom Erfolg des Unternehmens zu haben«, entgegnete St. James.
Henry Moullins Blick schweifte zum Garten, wo die zertrümmerten Muscheln wie Schnee auf dem Rasen lagen. »Genau das war seine Stärke: Ideen, die er anderen weitergibt. Und unsere Stärke. war der Glaube.«
»Kannten Sie den Inhalt von Brouards Testament?«, fragte St. James. »Kannte Ihre Tochter ihn?«
»Sie meinen, ob wir ihn umgebracht haben? Ihm schnell das Lebenslicht ausgeblasen, ehe er es sich anders überlegen konnte?« Moullin schob eine Hand in seine Hosentasche und zog einen schweren Schlüsselbund heraus. Er ging die Einfahrt entlang auf das Haus zu. Kies und Muscheln knirschten unter seinen Schritten. St. James blieb an seiner Seite, nicht weil er erwartete, dass Moullin sich noch weiter zu dem Thema äußern würde, das er selbst zur Sprache gebracht hatte, sondern weil ihm an dem Schlüsselbund des Mannes etwas aufgefallen
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