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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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auch noch das zu rauben, was sie in einem von Flucht, Angst und Verlust geprägten Leben so lange aufrechterhalten hatte. Bei allem, was geschehen war, was die Persönlichkeit eines anderen Kindes - das von zwei liebenden Eltern, von Großeltern und liebevollen Tanten und Onkeln sorgsam gelegte Fundament - vielleicht zerstört hätte, war es ihr gelungen, an sich selbst festzuhalten. Der Grund dafür war Guy gewesen und das, wofür er gestanden hatte: Für die Familie und das Gefühl, von irgendwoher gekommen zu sein, auch wenn dieses Irgendwo für immer verschwunden war. Jetzt aber schien es Ruth, als drohte Guy in seiner Wirklichkeit als lebender, atmender Mensch, den sie gekannt und geliebt hatte, ausgelöscht zu werden. Sie wusste nicht, wie sie sich davon erholen sollte, wenn das geschah, und ob sie es überhaupt konnte. Sie glaubte, sie würde es gar nicht wollen.
    Langsam fuhr sie unter den Kastanien die Auffahrt hinauf und dachte daran, wie gut es tun würde, zu schlafen. Jede Bewegung war schon seit Wochen eine Qual, und sie wusste, dass die nächste Zukunft keine Linderung ihrer Leiden bereithielt. Morphin in genau berechneten Dosen würde vielleicht die Schmerzen in ihren Knochen dämpfen, aber gegen den Verdacht, der sie zu quälen begonnen hatte, würde nur vollständiges Vergessen helfen.
    Sie sagte sich, dass es für das, was sie erfahren hatte, tausendundeine Erklärung gab. Aber das änderte nichts daran, dass vielleicht bei einer dieser Erklärungen die Umstände zugrunde lagen, die ihren Bruder das Leben gekostet hatten. Es zählte nichts, dass die Entdeckungen, die sie über das Verhalten ihres Bruders in seinen letzten Lebensmonaten gemacht hatte, das bedrückende Gefühl hätten erleichtern können, an seiner Ermordung, deren Hintergründe bisher unerklärt waren, Anteil gehabt zu haben. Von Bedeutung war die Tatsache, dass sie vom Tun ihres Bruders nichts gewusst hatte, und dieses einfache Nichtwissen genügte, einen Prozess in Gang zu setzen, in dessen Verlauf ihr alle ihre lebenslangen Überzeugungen genommen werden würden. Aber wenn sie das zuließ, würde das absolute Grauen in ihr Leben eindringen. Und deshalb musste sie Mauern errichten, um nicht zu verlieren, was ihrem Leben seinen Halt gegeben hatte. Aber sie wusste nicht, wie sie das machen sollte.
    Nach ihrem Besuch bei Dominic Forrest hatte sie zuerst Guys Anlageberater aufgesucht und dann seinen Banker. Den Gesprächen mit den beiden hatte sie entnommen, auf welchen Weg ihr Bruder sich in den letzten zehn Monaten vor seinem Tod begeben hatte. So wie er nach dem Verkauf riesiger Wertpapierpakete die Gelder herumgeschoben hatte, sah es danach aus, als wären alle seine Transaktionen mit dem Fingerabdruck der Illegalität beschmutzt. Die unbewegten Mienen seiner Finanzberater hatten vieles ahnen lassen, jedoch hatten sich die Herren auf die Präsentation von Fakten beschränkt, die so mager waren, dass sie die finstersten Vermutungen erzeugten.
    Fünfzigtausend Pfund hier, fünfundsiebzigtausend Pfund da, ständig anwachsend, bis Anfang November die immense Summe von zweihundertfünfzigtausend Pfund erreicht war. Natürlich würde es Spuren geben, über die sich die Transaktionen zurückverfolgen ließen, aber sie wollte noch nicht versuchen, sie aufzunehmen. Im Moment wollte sie lediglich das endgültige Resultat der Buchprüfung, von dem Dominic Forrest ihr berichtet hatte, abwarten. In den neun Jahren seit ihrer Übersiedlung auf die Insel hatte er sein Geld stets vorsichtig und klug angelegt, aber plötzlich, in seinen letzten Lebensmonaten, war ihm das Geld wie Sand durch die Hände geronnen... oder war ihm wie Blut abgezapft worden... oder war gebraucht... oder gespendet worden... oder - was?
    Sie wusste es nicht. Einen lächerlichen Moment lang sagte sie sich, es sei ihr egal. Es war nicht wichtig - das Geld an sich -, und das war nicht gelogen. Aber was das Geld repräsentierte, was das Fehlen des Geldes nahe legte, nachdem Guys Testament den Anschein erweckt hatte, es wäre reichlich davon da, um es unter seine Kinder und die beiden anderen Erben zu verteilen. Darüber konnte man nicht so leicht hinwegsehen. Denn das Nachdenken darüber führte Ruth unausweichlich zu Gedanken an die Ermordung ihres Bruders und der Frage, ob und wie diese Tat mit dem Geld zu tun hatte.
    Ihr schmerzte der Kopf. So viele Informationen wirbelten da oben herum, und jede schien sich mit Gewalt vordrängen zu wollen, so dass ihr schien, sie

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