12 - Wer die Wahrheit sucht
ganz gleich, was seine Absichten ihr und ihrer Familie gegenüber waren. Sie musste ihre Tabletten nehmen, eine ausreichende Dosis, um ihren Körper unempfindlich zu machen, wenn das überhaupt möglich war. Sie sagte: »Mr. St. James, Sie sind doch aus einem bestimmten Grund hier. Ich weiß, das ist kein Anstandsbesuch.«
»Ich war bei Henry Moullin«, sagte er.
Sie wurde sofort vorsichtig. »Ja?«
»Ich wusste nicht, dass Mrs. Duffy seine Schwester ist.«
»Es gab keinen Grund, Ihnen das zu erzählen.«
Er lächelte flüchtig in Anerkennung ihres Arguments und berichtete ihr weiter, dass er Henry Moullins Zeichnungen der Museumsfenster gesehen hatte. Dabei seien ihm, sagte er, die Baupläne im Besitz ihres Bruders eingefallen. Ob er sie sich einmal ansehen könne.
Ruth war so erleichtert über dieses einfache Anliegen, dass sie sofort darauf einging, ohne sich zu überlegen, wohin das möglicherweise führen konnte. Die Pläne seien oben in Guys Arbeitszimmer, antwortete sie. Sie würde sie ihm sofort holen.
St. James sagte, er würde sie gern begleiten, wenn sie nichts dagegen habe. Er wollte sich auch das Modell noch einmal ansehen, das Bertrand Debiere für Mr. Brouard hergestellt hatte. Es würde nicht lange dauern, versicherte er.
Wieder blieb ihr nichts anderes übrig als zuzustimmen. Erst auf der Treppe sprach St. James wieder.
»Henry Moullin scheint seine Tochter im Haus eingesperrt zu haben«, sagte er. »Haben Sie eine Ahnung, wie lange das schon so geht, Miss Brouard?«
Ruth ging weiter die Treppe hinauf und tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört.
Doch St. James ließ nicht locker. »Miss Brouard...?«, sagte er.
Sie antwortete rasch, auf dem Weg durch den Korridor zum Arbeitszimmer ihres Bruders. Sie war froh um den trüben Tag und die schlechte Beleuchtung des Flurs, denn da würde ihr Gesichtsausdruck nicht so leicht zu erkennen sein. »Ich habe keine Ahnung«, erklärte sie. »Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, meine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken, Mr. St. James.«
»Na gut, es war kein Ring in seinem Verzeichnis«, sagte Cherokee River zu seiner Schwester. »Aber das heißt nicht, dass nicht irgendwann jemand den Ring geklaut hat, ohne dass er es merkte. Er sagt, Adrian, Steve Abbott und der kleine Fielder waren alle mal da gewesen.«
China schüttelte den Kopf. »Der Ring aus der Bucht ist meiner. Ich weiß es. Ich spür es. Du nicht?«
»Sag so was nicht«, bat Cherokee. »Es muss eine andere Erklärung geben.«
Sie waren in der Wohnung in den Queen-Margaret-Apartments, alle drei in dem kleinen Zimmer, in dem Deborah und Cherokee bei ihrer Heimkehr China angetroffen hatten. Sie hatte auf einem Holzstuhl aus der Küche bei eisiger Kälte am offenen Fenster gesessen, das einen Blick auf die ferne Festung Castle Cornet umrahmte.
»Ich hab mir gedacht, ich gewöhn mich schon mal daran, die Welt von einem kleinen Zimmer aus zu sehen, das nur ein Fenster hat«, hatte sie mit bitterer Ironie zu den beiden gesagt.
Sie hatte weder Jacke noch Pullover an. Ihre Arme waren mit Gänsehaut überzogen, aber sie schien das gar nicht wahrzunehmen.
Deborah zog ihren Mantel aus. Sie hätte die Freundin gern mit der gleichen Begeisterung aufgemuntert wie Cherokee, aber sie wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Das offene Fenster bot einen Vorwand, eine Diskussion über Chinas immer aussichtsloser werdende Situation zu vermeiden. »Du frierst«, sagte sie, »komm, zieh das an.« Sie legte China ihren Mantel um die Schultern.
Cherokee ging hin und machte das Fenster zu. »Gehen wir rüber«, sagte er mit einer Kopfbewegung zum Wohnzimmer, wo es ein wenig wärmer war.
Als sie China mit einer Decke um die Beine auf das Sofa gesetzt hatten, sagte Cherokee zu seiner Schwester: »Du musst wirklich besser auf dich Acht geben. Wir können manches für dich tun, aber das können wir dir nicht abnehmen.«
China sagte zu Deborah: »Er glaubt, dass ich es war, stimmt's? Er kommt deshalb nicht hierher, weil er glaubt, dass ich es war.«
Cherokee sagte: »Was redest du -«
Aber Deborah, die verstanden hatte, fiel ihm ins Wort. »Nein, das ist nicht Simons Art, so arbeitet er nicht. Es gehört zu seinem Beruf, Beweismaterial zu prüfen. Dazu muss er offen sein und darf keine vorgefasste Meinung haben. Und so ist es jetzt auch. Er ist absolut offen.«
»Warum war er dann noch nicht hier? Ich wollte, er würde mal kommen. Dann könnte ich - wenn wir uns kennen
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