12 - Wer die Wahrheit sucht
unterwegs. Aber einer der Juniorpartner könne Mrs. Chamberlain und Mr. Brouard empfangen.
Was Junior heiße, verlangte Margaret zu wissen.
Ach, das sei nur so ein Begriff, versicherte man ihr.
Der Juniorpartner entpuppte sich als eine Frau mittleren Alters namens Julia Crown. Sie hatte ein dickes Muttermal unter dem linken Auge und verströmte einen Anflug von Mundgeruch, offenbar von dem angebissenen Salamibrot verursacht, das auf einem Pappteller auf ihrem Schreibtisch lag.
Während Adrian gelangweilt in einem Sessel an ihrer Seite saß, erläuterte Margaret den Grund ihres Besuchs: Ein Sohn, der um sein Erbe betrogen worden war, und ein Erbe, von dem mindestens drei Viertel des Vermögens, das es hätte umfassen sollen, abgängig waren.
Das, teilte Miss Crown ihnen mit einem nachsichtigen Lächeln mit, das für Margarets Geschmack eine Spur zu herablassend war, sei höchst unwahrscheinlich. Ob Mr. Chamberlain...
Brouard, korrigierte Margaret. Guy Brouard, Le Reposoir, Gemeinde St. Martin. Sie sei seine geschiedene Frau, und dies ihr gemeinsamer Sohn Adrian Brouard, erklärte sie Miss Crown und fügte mit Betonung hinzu: Mr. Guy Brouards ältester Sohn und einziger männlicher Erbe.
Sie vermerkte mit Befriedigung, dass Julia Crown plötzlich die Ohren spitzte, wenn auch nur bildlich gesprochen. Die Wimpern hinter den goldgeränderten Brillengläsern zuckten. Sie betrachtete Adrian mit erhöhtem Interesse. Es war ein Moment, in dem Margaret ihrem verstorbenen Exmann gegenüber endlich so etwas wie Dankbarkeit für sein rücksichtsloses Streben nach persönlichem Erfolg aufbringen konnte. Wenigstens hatte er sich einen Namen gemacht, von dem auch sein Sohn profitierte.
Margaret schilderte Miss Crown die Situation: ein hälftig geteilter Nachlass; zwei Töchter und ein Sohn, die sich die eine Hälfte teilen mussten; zwei Fremde - jawohl, Fremde in Gestalt zweier einheimischer Jugendlicher, die der Familie praktisch unbekannt waren -, die zu gleichen Teilen die andere Hälfte erhielten. Dagegen musste etwas unternommen werden.
Miss Crown nickte verständig und wartete auf Margarets weiteren Vortrag. Als nichts kam, erkundigte sich Miss Crown, ob es eine hinterbliebene Ehefrau gebe. Nein? Tja - und sie faltete die Hände auf dem Schreibtisch und verzog die Lippen zu einem Lächeln eisiger Höflichkeit -, dann sei an dem Testament, so weit sie sehen könne, nichts Irreguläres. Das in Guernsey geltende Erbrecht schreibe die Aufteilung des Nachlasses genau vor. Eine Hälfte falle stets den gesetzlichen Nachkommen des Erblassers zu. In den Fällen, in denen es keinen überlebenden Ehepartner gab, könne der Erblasser die andere Hälfte des Nachlasses nach persönlichem Gutdünken verteilen. Das habe der Herr, um den es hier ging, offensichtlich getan.
Margaret spürte die Unruhe ihres Sohnes, die ihn an dieser Stelle trieb, in seine Jackentasche zu greifen und ein Streichholzheftchen herauszuholen. Sie glaubte, er wolle rauchen, obwohl nirgends im Zimmer ein Aschenbecher stand, aber er begann, sich mit einer Ecke des Heftchens die Fingernägel zu reinigen. Miss Crown verzog leicht angewidert den Mund, als sie es bemerkte.
Margaret wäre am liebsten auf ihn losgegangen, aber sie begnügte sich damit, wütend seinen Fuß anzustoßen. Er zog ihn weg. Sie räusperte sich.
Die im Testament vorgenommene Aufteilung des Nachlasses sei die kleinere ihrer Sorgen, erklärte sie der Anwältin. Dringender sei die Frage, was aus dem Vermögen geworden sei, das dem Gesetz nach Teil des Nachlasses hätte sein müssen, ganz gleich, wer geerbt hätte. Im Testament sei der Landsitz, auf dem ihr geschiedener Mann gelebt hatte, mit keinem Wort erwähnt - weder das Haus noch seine Einrichtung, noch der Grundbesitz, den Le Reposoir umfasste. Unerwähnt geblieben seien auch die Immobilien ihres Mannes in Spanien, England, Frankreich, auf den Seychellen und weiß Gott wo sonst noch; sowie alle persönlichen Besitztümer wie Autos, Boote, ein Flugzeug und ein Hubschrauber. Schließlich habe ihr Mann bedeutende Sammlungen von Miniaturen, Antiquitäten, Silber, Gemälden, Skulpturen und Münzen besessen. Auch über diese sei in seinem Testament kein Wort verloren worden. Das alles müsse doch Teil des gesetzlichen Nachlasses sein. Ihr geschiedener Mann sei ein erfolgreicher Unternehmer gewesen und habe ein Millionenvermögen besessen. In seinem Testament aber sei lediglich von einem Sparkonto, einem Girokonto und einem Wertpapierkonto
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