12 - Wer die Wahrheit sucht
die Rede. Wie Miss Crown sich das erkläre, erkundigte sich Margaret süffisant.
Miss Crown machte ein nachdenkliches Gesicht. Aber höchstens drei Sekunden lang, dann fragte sie Margaret, ob sie sich der Fakten sicher sei.
Margaret erwiderte verschnupft, natürlich sei sie sicher. Sie laufe doch nicht zum Anwalt, ohne sich vorher gründlich zu informieren. Wie sie schon zu Anfang gesagt habe, es fehlten mindestens drei Viertel des Nachlasses, und sie sei entschlossen, für Aufklärung zu sorgen, schon um ihres Sohnes willen, ältestes Kind und einziger Sohn seines Vaters.
An dieser Stelle forderte Margaret ihren Sohn mit einem Blick zu einem Zeichen der Zustimmung oder Bekräftigung auf. Er schlug ein Bein über das andere, enthüllte dabei ein wenig attraktives Stück fischweiße Haut und sagte nichts. Er hatte, wie Margaret erst jetzt bemerkte, keine Socken an.
Julia Crown warf einen Blick auf das weiße Leichenbein ihres potentiellen Mandanten und schaffte es, ein Schaudern zu unterdrücken. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Margaret und sagte, ob Mrs. Chamberlain so freundlich sein wolle, einen Moment zu warten, sie habe da etwas, was helfen würde.
Hier hilft nur Rückgrat, dachte Margaret. Das Rückgrat, das Adrian erst noch eingepflanzt werden musste. Aber zu der Anwältin sagte sie, natürlich, jede Hilfe sei willkommen, und wenn Miss Crown zu beschäftigt sei, um den Fall zu übernehmen, könne sie vielleicht einen Kollegen empfehlen...?
Miss Crown ging hinaus, während Margaret noch sprach. Sie schloss die Tür behutsam hinter sich, und Margaret konnte hören, wie sie mit dem Praktikanten im Vorzimmer sprach. »Edward, wo haben wir diese Erläuterungen zum Retrait Linager, die Sie an die Mandanten schicken?« Die Antwort des Praktikanten war nicht zu verstehen.
Margaret nutzte dieses Intermezzo, um wütend zu ihrem Sohn zu sagen: »Du könntest dich auch beteiligen. Das würde einiges erleichtern.« Vorhin, in der Küche von Le Reposoir, hatte sie tatsächlich einen Moment lang geglaubt, ihr Sohn hätte es endlich geschafft. Er hatte sich wie ein Mann mit Paul Fielder geschlagen, und bei ihr hatte sich ein Fünkchen echter Hoffnung geregt - leider verfrüht. »Du könntest wenigstens so tun, als hättest du ein Interesse an deiner Zukunft.«
»Dein Interesse könnte ich unmöglich übertreffen, Mutter«, erwiderte Adrian ungerührt.
»Du kannst einen wirklich wahnsinnig machen. Kein Wunder, dass dein Vater -« Sie brach ab.
Er hob mit einer herausfordernden Bewegung den Kopf und sah sie mit spöttischem Lächeln an. Aber er sagte nichts.
Julia Crown kam mit einigen mit Maschine beschriebenen Blättern Papier wieder ins Zimmer. Hier seien die gesetzlichen Vorschriften des Retrait Linager genau erklärt, bemerkte sie.
Margaret war an nichts anderem interessiert, als von der Anwältin zu hören, ob sie bereit war, sie und Adrian zu vertreten oder nicht, damit sie sich um ihre anderen Geschäfte kümmern konnte. Es gab eine Menge zu tun, und in einer Anwaltskanzlei herumzusitzen und die Erläuterungen zu irgendwelchen vorsintflutlichen Gesetzen zu lesen, gehörte nicht zu ihren Prioritäten. Aber sie nahm die Papiere entgegen und kramte in ihrer Handtasche nach ihrer Brille. Während sie damit beschäftigt war, unterrichtete Miss Crown sie und ihren Sohn, welche rechtlichen Auswirkungen es hatte, wenn man als ständiger Bewohner der Insel Guernsey einen großen Besitz sein Eigen nannte oder einen solchen veräußern wollte.
Auf dieser Insel, erklärte sie, hatte das Gesetz wenig Verständnis für Leute, die ihren direkten Nachkommen nichts hinterlassen wollten. Nicht nur konnte man sein Geld nicht nach Belieben vererben, ohne Rücksicht darauf, ob man Kinder hatte oder nicht, man konnte auch nicht einfach seinen gesamten Grundbesitz vor dem Tod verkaufen und hoffen, das Gesetz auf diese Weise zu umgehen. Die eigenen Kinder hatten das Vorkaufsrecht auf den Besitz und waren berechtigt, ihn für den Preis zu erwerben, für den man ihn auf dem Markt anbieten wollte, sollte man sich zum Verkauf entschließen. Wenn sie sich den Preis nicht leisten konnten, war man natürlich aus dem Schneider. Dann konnte man verkaufen und jeden Penny vor seinem Tod verschenken oder ausgeben. Auf jeden Fall aber mussten die eigenen Kinder als Erste davon informiert werden, dass man vorhatte, ihr zukünftiges Erbe zu veräußern. Auf diese Weise wurde dafür gesorgt, dass Grundbesitz in der Familie blieb,
Weitere Kostenlose Bücher