12 - Wer die Wahrheit sucht
abgeschnittene Jeans und ein Hawaihemd. Ziemlich ausgeflippt für einen Architekten, fand ich. Aber vielleicht war er ja auch nur der Bürobote.«
Nein, den Namen wisse sie nicht, sagte sie zum Schluss. Sie hätten nicht miteinander gesprochen. Er habe Kopfhörer aufgehabt und Musik gehört. Er habe sie an Bob Marley erinnert.
St. James dankte ihr und machte Schluss.
Er trat zum Fenster mit der Aussicht auf St. Peter Port. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was sie gesagt hatte und was das bedeuten konnte. Es gab nur eine mögliche Schlussfolgerung: Nichts, was sie bisher wussten, war so, wie es zu sein schien.
28
Simons Misstrauen reizte Deborah, und es reizte sie zusätzlich, dass er dieses Misstrauen wahrscheinlich damit rechtfertigte, dass sie mit dem Nazi-Ring nicht sofort zur Polizei gerannt war, wie er sich das vorgestellt hatte. Seine Zweifel hatten mit der realen Situation nichts zu tun. Tatsache war, dass Simon ihr misstraute, weil er ihr immer misstraute. Es war eine Reflexreaktion bei ihm, wann immer irgendetwas die Denkfähigkeit einer Erwachsenen von ihr forderte, derer er sie nicht für fähig zu halten schien. Diese Einstellung ihr gegenüber war der Fluch ihrer Beziehung. Das hatte sie davon, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der früher einmal ihr gegenüber die Elternrolle eingenommen hatte. Er fiel zwar nicht immer in Momenten des Konflikts in diese Rolle zurück. Aber die Tatsache, dass er es überhaupt tat, ärgerte sie.
Sie schlug den Weg zu den Queen-Margaret-Apartments ein anstatt in der High Street zu bummeln oder den Hang zu den Candie Gardens hinaufzusteigen, zum Castle Cornet hinauszuwandern oder in den Schmuckgeschäften in der Commercial Arcade zu stöbern. Aber der Besuch in der Clifton Street war umsonst. Auf ihr Klopfen an der Tür von Wohnung B rührte sich nichts. Sie stieg die Treppe zum Marktviertel hinunter und redete sich ein, sie suche nicht nach China, und selbst wenn, sagte sie sich, was sei denn schon dabei. Sie waren alte Freundinnen, und China wartete gewiss auf tröstende Zusicherungen, dass die Situation, in die sie und ihr Bruder hineingeraten waren, bald geklärt würde.
Deborah wollte ihr diesen Trost geben. Es war das Mindeste, was sie tun konnte.
In den alten Markthallen am Fuß der Treppe war China nicht, auch nicht in dem Lebensmittelgeschäft, in dem Deborah schon mal auf sie und ihren Bruder gestoßen war. Erst als Deborah jeden Gedanken daran aufgegeben hatte, die Freundin zu finden, entdeckte sie diese rein zufällig oben in der Smith Street, als sie selbst, von der High Street kommend, in die Straße einbog.
Gerade hatte sie resigniert den Anstieg in Angriff genommen, um ins Hotel zurückzukehren, und hielt noch einmal kurz an, um einem Händler eine Zeitung abzukaufen. Als sie ihr Portemonnaie wieder in ihre Umhängetasche schob, sah sie China auf halber Höhe aus einem Geschäft treten und zu dem Platz am Ende der Smith Street hinaufgehen, wo das Kriegerdenkmal stand.
Deborah rief ihren Namen. China drehte sich herum und musterte mit suchendem Blick die Leute, die ebenfalls hügelaufwärts gingen, gut gekleidete Männer und Frauen am Ende ihres Arbeitstags in einer der vielen Banken weiter unten. Sie winkte und wartete auf Deborah.
»Wie läuft's?«, fragte sie, als Deborah nahe genug war, um sie zu hören. »Was Neues?«
Deborah sagte: »Wir wissen es nicht genau.« Um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und sich vor der Versuchung zu schützen, China zur Beruhigung Details zu erzählen, sagte sie: »Was tust du hier?«
»Ich war auf der Suche nach Süßigkeiten, Baby Ruth oder Butterfinger.« China klopfte auf ihre voluminöse Umhängetasche. »Die mag er am liebsten. Aber es gibt sie hier nirgends. Da hab ich ihm was anderes mitgenommen. Ich hoffe, sie lassen mich zu ihm.«
Bei ihrem ersten Besuch auf dem Präsidium sei sie abgewiesen worden, erzählte sie. Nachdem sie sich von Deborah und ihrem Mann getrennt hatte, war sie in die Hospital Lane gegangen, aber man hatte ihr nicht gestattet, mit ihrem Bruder zu sprechen. Solange ein Verdächtiger vernommen werde, hatte man ihr erklärt, dürfe nur sein Anwalt mit ihm sprechen. Sie hätte das eigentlich aus eigener Erfahrung wissen müssen, sagte sie. Sie hatte Holberry angerufen, und der hatte ihr versprochen, sein Bestes zu tun, um für sie eine Besuchserlaubnis zu erwirken. Deshalb war sie losgezogen, um Süßigkeiten zu besorgen, die sie ihrem Bruder jetzt bringen
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