12 - Wer die Wahrheit sucht
dich.«
»Ich möchte aber bei dir bleiben«, sagte Deborah. »China, es wird bestimmt alles gut.«
China sagte nur: »Ja?« und ging quer durch das Foyer an den Türen aus Holz und Glas vorbei, auf denen zu lesen stand, welche Abteilung sich jeweils hinter ihnen befand. Sie eilte direkt auf eine prächtige Treppe zu, an deren holzgetäfelter Wand in Gold die Namen alter Familien der Insel aufgeführt waren. Im oberen Stockwerk fand sie, was sie anscheinend gesucht hatte: den Gerichtssaal.
Das war gerade für China, weiß Gott, nicht der Ort, um Aufheiterung zu suchen, und dass sie ihn gewählt hatte, zeigte deutlich, wie anders sie war als ihr Bruder. Cherokee hatte in der gleichen Situation - als seine Schwester unschuldig von der Polizei festgehalten worden war - geplant und gehandelt. Deborah sah, dass sein Hang, ständig irgendwelche Pläne zu schmieden, dass gerade diese Neigung, die China oft zur Verzweiflung getrieben hatte, auch ihre Vorteile besaß: So jemand war nicht so leicht zu entmutigen.
»Also, das ist nun wirklich nicht der richtige Ort für dich«, sagte Deborah, als China sich hinten im Saal in die letzte Reihe setzte.
Als hätte Deborah nichts gesagt, erläuterte China: »Holberry hat mir erklärt, wie hier Strafprozesse geführt werden. Als ich dachte, dass es mich erwischen würde, habe ich ihn danach gefragt.« Sie blickte starr geradeaus, als könnte sie die Szene vor sich sehen, während sie sie beschrieb. »Also pass auf: Geschworene gibt es nicht. Jedenfalls nicht so wie bei uns. Ich meine, zu Hause. Da wird niemand auf die Geschworenenbank gesetzt und auf Herz und Nieren geprüft, um sicherzustellen, dass er nicht längst beschlossen hat, den Angeklagten für schuldig zu halten. Hier arbeiten sie mit Berufsgeschworenen. Ich meine, diese Leute üben das als Beruf aus. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie dabei ein gerechter Prozess rauskommen soll. Das heißt doch, dass schon vor dem Prozess jeder mit ihnen reden kann. Und sie können alles über einen Fall lesen, wenn sie wollen. Wahrscheinlich können sie sogar ihre eigenen Nachforschungen anstellen, weiß der Himmel. Auf jeden Fall ist es ganz anders als bei uns zu Hause.«
»Ja, das macht einem Angst«, meinte Deborah.
»Zu Hause hätte ich wenigstens eine Ahnung, was ich jetzt tun könnte, weil ich weiß, wie alles funktioniert. Wir könnten uns jemanden engagieren, der sich darauf versteht, Geschworene in die Mangel zu nehmen und die Besten auszuwählen. Wir könnten Presseinterviews geben. Wir könnten mit Fernsehreportern und solchen Leuten reden. Wir könnten irgendwie auf die öffentliche Meinung einwirken, damit bei einem Prozess -«
»Zu dem es nicht kommen wird«, unterbrach Deborah mit Entschiedenheit. »Ganz bestimmt nicht. Du musst das glauben.«
»- die Leute nicht ganz so negativ denken. Er ist ja nicht ganz ohne Freunde. Ich bin hier. Du. Simon. Wir könnten etwas tun. Wenn es hier so wäre wie bei uns zu Hause...«
Zu Hause, dachte Deborah. Sie wusste, dass die Freundin Recht hatte. Alles, was sie hier erlebte, wäre weniger traumatisch gewesen, wenn sie zu Hause gewesen wäre, wo ihr alles vertraut war: die Menschen, die Gewohnheiten und, was am wichtigsten war, das Verfahren selbst - oder das, was zu ihm führte.
Deborah war klar, dass sie China dieses Gefühl von Sicherheit, das mit einer vertrauten Umwelt einherging, nicht bieten konnte, jedenfalls nicht hier, an diesem Ort, wo eine schreckliche Zukunft drohte. Sie konnte nur versuchen, sie in eine neutrale Umgebung zu bringen und ihr, die ihr einmal eine große Hilfe gewesen war, Trost spenden.
In das Schweigen hinein, das Chinas Worten folgte, sagte sie: »Hey, Freundin...«
China sah sie an.
Deborah lächelte und sagte, was China selbst vielleicht, ganz sicher aber ihr Bruder in dieser Situation gesagt hätte: »Hey, das ist echt nicht der Bringer hier. Komm, machen wir uns vom Acker.«
Trotz ihrer Stimmung lächelte China. »Okay, cool«, sagte sie.
Als Deborah aufstand und China die Hand bot, ergriff diese sie. Und sie ließ sie erst wieder los, als sie draußen auf der Straße standen.
Nachdenklich legte St. James nach seinem zweiten Telefongespräch mit Lynley an diesem Tag den Hörer auf. Es war Lynleys Bericht zufolge nicht schwierig gewesen, bei Vallera & Sohn genauere Auskünfte zu erhalten. Der Mann, der dort Lynleys Anruf entgegengenommen hatte, war eindeutig nicht mit übermäßiger Intelligenz gesegnet gewesen. Nicht nur hatte er
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