12 - Wer die Wahrheit sucht
rannte. Gleich darauf erschien Valerie Duffy, in den Händen das Hemd, das sie Paul gebracht hatte, das verschmähte Geschenk einer Mutter, deren eigene Söhne flügge geworden waren und das heimische Nest verlassen hatten, als sie noch nicht darauf vorbereitet gewesen war.
Sie hätte mehr Kinder bekommen sollen, dachte Ruth, als sie Valerie zum Haus zurückgehen sah. Manche Frauen wurden mit einem Hunger nach Mutterschaft geboren, den nichts stillen konnte, und Valerie Duffy schien eine von ihnen zu sein.
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Ruth behielt sie im Auge, bis sie verschwand, vermutlich in der Küche direkt unter Guys Arbeitszimmer, das Ruth gleich nach dem Frühstück aufgesucht hatte. Es war der einzige Ort, wo sie ihm jetzt nahe sein konnte, umgeben von all den sichtbaren Dingen, die, wie um der grauenvollen Art seines Sterbens zu spotten, bezeugten, dass Guy Brouard ein gutes Leben gehabt hatte. Überall im Arbeitszimmer ihres Bruders gab es diese Zeugnisse zu sehen: an den Wänden, auf den Bücherregalen, auf dem schönen alten Renaissance-Tisch in der Mitte des Raums. Hier waren die Zertifikate, die Fotografien, die Auszeichnungen, die Pläne und die Dokumente. Abgeheftet lagen hier Korrespondenz und Empfehlungsschreiben, die so manchen, der sich als würdig erwies, in den Genuss der weithin bekannten Brouardschen Großzügigkeit gebracht hatten. Und eindrucksvoll zur Schau gestellt stand hier das Modell eines Bauwerks, das Guy der Insel, die sein Zuhause geworden war, als Geschenk versprochen hatte. Es hätte die Vollendung seines Lebenswerks werden sollen, ein Monument zum Gedenken an die Leiden der Inselbewohner, wie er es genannt hatte. Von einem Mann gestiftet, der ebenfalls gelitten hatte.
Als Guy an jenem Morgen nicht vom Schwimmen zurückgekommen war, hatte Ruth sich zunächst keine Sorgen gemacht. Gewiss, er war eigentlich immer pünktlich und zuverlässig, aber als sie ihn nicht wie sonst im Frühstückszimmer angetroffen hatte, fertig angekleidet und auf die Rundfunknachrichten konzentriert, während er auf sein Frühstück wartete, hatte sie vermutet, er hätte nach dem Schwimmen bei den Duffys vorbeigeschaut und eine Kaffeepause mit Valerie und Kevin eingelegt. Das hatte er hin und wieder getan. Er hatte die beiden gern gehabt. Ruth hatte deshalb nach einem Augenblick der Überlegung ihren Kaffee und ihre Grapefruit zum Telefon im Damenzimmer mitgenommen und bei den Duffys angerufen.
Valerie meldete sich. Nein, sagte sie, Mr. Brouard sei nicht bei ihnen. Sie habe ihn seit dem frühen Morgen, als sie ihn auf dem Weg zum Schwimmen gesehen habe, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Was los sei? Ob er noch nicht zurück sei? Wahrscheinlich sei er irgendwo auf dem Gelände... vielleicht bei den Skulpturen. Er habe Kevin gegenüber erwähnt, dass er sie umstellen wolle. Dieser große menschliche Kopf im tropischen Garten? Vielleicht versuche er, sich darüber schlüssig zu werden, wo er ihn haben wolle, sie, Valerie, wisse nämlich mit Sicherheit, dass der Kopf eines der Stücke war, die Mr. Brouard anders platzieren wollte. Nein, Kev sei nicht bei ihm. Kev sitze hier in der Küche.
Noch immer war Ruth nur verwundert. Sie ging ins Badezimmer ihres Bruders hinauf, wo er sich nach dem Schwimmen normalerweise umzog. Aber weder seine Badehose noch sein Trainingsanzug waren da, und auch kein feuchtes Handtuch, das zusätzlicher Beweis für seine Rückkehr gewesen wäre.
Da spürte sie einen ersten Anflug von Beunruhigung, und ihr fiel ein, was sie von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, als sie am Morgen ihrem Bruder auf seinem Weg zur Bucht nachgeschaut hatte: diese Gestalt, die sich in der Nähe des Hauses der Duffys aus dem Schutz der Bäume gelöst hatte, als Guy vorbeigekommen war.
Sie ging zum Telefon und rief noch einmal die Duffys an. Kevin versprach ihr, zur Bucht hinunterzulaufen.
Er war im Laufschritt zurückgekommen, aber nicht zu ihr. Erst als am Ende der Auffahrt der Rettungswagen erschien, war er gekommen, um sie zu holen.
Das war der Beginn des Albtraums gewesen. Und er war mit dem Verlauf der Stunden immer schrecklicher geworden. Anfangs hatte sie geglaubt, Guy hätte einen Herzinfarkt gehabt, aber als sie nicht mit ihm zusammen ins Krankenhaus fahren durfte, sondern dem Rettungswagen in dem von Kevin gelenkten Auto folgen musste, als Guy fortgebracht wurde, ehe sie ihn sehen konnte, wusste sie, dass etwas Entsetzliches passiert war, das alles auf immer verändert hatte.
Sie hoffte auf einen Schlaganfall.
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