12 - Wer die Wahrheit sucht
Dann wäre er wenigstens noch am Leben. Aber schließlich teilten sie ihr mit, dass er tot war, und erläuterten ihr die Umstände seines Todes. Dieser Erklärung entsprang ein neuer Albtraum, der sie seither ständig begleitete: Guy hilflos und allein im Kampf um sein Leben, in Todesqualen.
Lieber hätte sie geglaubt, ihr Bruder habe sein Leben durch einen Unglücksfall verloren. Die Gewissheit, dass er ermordet worden war, hatte sie zerbrochen und ihr Leben auf zwei Fragen reduziert: Warum? Wer? Aber das war gefährliches Terrain.
Das Leben hatte Guy gelehrt, dass er sich nehmen musste, was er haben wollte, dass ihm nichts geschenkt werden würde. Aber mehr als nur ein Mal hatte er genommen, ohne zu bedenken, ob das, was er haben wollte, auch das war, was er haben sollte. Die Folge dieses Handelns war Leiden für andere gewesen. Seine Ehefrauen, seine Kinder, seine Geschäftsfreunde, seine... andere eben.
Du kannst so nicht weitermachen, ohne dass dabei jemand zu Grunde geht, hatte sie zu ihm gesagt. Und ich kann nicht untätig zusehen.
Aber er hatte sie liebevoll ausgelacht und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Frau Oberlehrerin Brouard, hatte er sie geneckt. Gibst du mir eins auf die Finger, wenn ich nicht gehorche?
Der Schmerz war zurück. Er bohrte sich in ihr Rückgrat wie ein spitzer Dorn, der durch ihren Nacken getrieben wurde und dann vereiste, bis die entsetzliche Kälte sich anfühlte wie Feuer. Er sandte Tentakel abwärts, jedes von ihnen eine kriechende Giftschlange der Krankheit. Er trieb sie Rettung suchend aus dem Zimmer.
Sie war nicht allein im Haus, aber sie fühlte sich allein, und hätte nicht der teuflische Krebs sie in den Klauen gehabt, sie hätte vielleicht gelacht.
Sechsundsechzig Jahre alt und unversehens aus dem Schoß brüderlicher Liebe gerissen. Wer hätte in jener fernen Nacht, als ihre Mutter geflüstert hatte: Promets-moi de ne pas pleurer, ma petite chatte. Sois forte pour Guy, gedacht, dass es einmal so kommen würde?
Sie wünschte, sie könnte das Vertrauen ihrer Mutter wahren, wie sie das sechzig Jahre lang getan hatte. Aber jetzt musste sie der Wahrheit ins Auge sehen: Sie konnte für niemanden stark sein.
Margaret Chamberlain war noch keine fünf Minuten mit ihrem Sohn zusammen, da drängte es sie schon, ihn herumzukommandieren: Halt dich gerade, Herrgott noch mal! Schau den Leuten ins Gesicht, wenn du mit ihnen sprichst! Behandle gefälligst mein Gepäck nicht so grob! Pass auf den Fahrradfahrer dort auf! Setz doch den Blinker, wenn du abbiegst! Aber es gelang ihr, die Flut von Kommandos zurückzuhalten. Er war unter ihren vier Söhnen derjenige, den sie am meisten liebte und der ihre Geduld auf die härteste Probe stellte - das Letztere schrieb sie seinem väterlichen Erbe zu, das ein anderes war als das ihrer drei übrigen Söhne. Aber da er soeben den Vater verloren hatte, war sie bereit, seine mehr oder weniger irritierenden Eigenheiten zu übersehen. Fürs Erste.
Er erwartete sie in der so genannten Ankunftshalle des Flughafens von Guemsey. Als sie mit dem Trolley, auf dem ihr Gepäck gestapelt war, durch die Tür kam, lungerte er am Schalter einer Mietwagenfirma herum. Er hätte mit der attraktiven Rothaarigen, die dort beschäftigt war, schwatzen können wie ein normaler Mann, wäre er einer gewesen. Aber nein, er tat so, als wäre er in das Studium einer Straßenkarte vertieft, und ließ wieder einmal eine Gelegenheit verstreichen, die das Leben ihm praktisch in den Schoß warf.
Margaret seufzte. »Adrian?«, sagte sie. Und dann, als er nicht reagierte, noch einmal: »Adrian!«
Beim zweiten Mal hörte er sie und blickte auf. Er trat an den Mietwagenschalter und legte die Karte zurück. Die Rothaarige fragte, ob sie etwas für ihn tun könne, aber er antwortete nicht. Sah sie nicht einmal an. Sie fragte noch einmal. Er klappte den Kragen seiner Jacke hoch und drehte ihr den Rücken zu, anstatt zu antworten. »Der Wagen steht draußen«, sagte er ohne ein Wort der Begrüßung zu seiner Mutter und hievte ihre Koffer vom Gepäckkarren.
»Wie wär's mit ›Hattest du einen guten Flug, Mama?‹«, meinte Margaret. »Wäre es nicht einfacher, das Gepäck auf dem Karren zum Auto zu bringen, Schatz?«
Mit den Koffern bepackt, ging er davon. Sie konnte nur folgen. Sie warf einen Blick zum Mietwagenschalter und lächelte entschuldigend, für den Fall, dass die Rothaarige mitbekommen hatte, was für einen Empfang ihr Sohn ihr bereitete. Dann eilte sie ihm
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