12 - Wer die Wahrheit sucht
passieren konnte.
Valerie sagte: »Ich habe gestern in Le Bouet angerufen und mit Pauls Bruder über die Beerdigung gesprochen, Tab. Weißt du, was ich glaube? Dass Billy Fielder seinem Bruder nicht ausgerichtet hat, was ich ihm gesagt habe. Na ja, das hätte ich mir ja denken können, so wie Billy ist. Ich hätte immer wieder anrufen sollen, bis ich Paul selbst oder seine Eltern erreicht hätte. Ich bin froh, dass du Paul hergebracht hast, Taboo, jetzt weiß er wenigstens Bescheid.«
Paul wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Den Kopf gesenkt, scharrte er mit den Füßen im sandigen Boden am Teichufer. Er dachte an die vielen Leute, die zum Begräbnis von Guy Brouard kommen würden, und war froh, dass man ihm nichts gesagt hatte. Wie er sich fühlte, seit Mr. Guy tot war, war so schon schlimm genug. Auch noch unter die Leute zu gehen, das war unmöglich. All die Blicke, all die heimlichen Vermutungen, all das Getuschel. Das ist der kleine Paul Fielder, Mr. Guys ganz besonderer Freund. Und die Mienen, die diese Worte - besonderer Freund - begleiten würden, die hochgezogenen Brauen, die weit aufgerissenen Augen, die Paul verraten würden, dass die Sprecher mehr sagten als bloße Worte.
Er blickte auf, um zu prüfen, ob Valerie ihn mit dieser Miene ansah, mit den hochgezogenen Brauen und den aufgerissenen Augen. Aber das tat sie nicht, und er konnte endlich die Schultern entspannt sinken lassen. Seit seiner Flucht aus Moulin des Niaux waren sie so verkrampft, dass sie begonnen hatten, wehzutun. Jetzt aber war es, als wäre die Kneifzange um sein Schlüsselbein plötzlich geöffnet worden.
»Wir fahren um halb zwölf morgen Mittag los«, sagte Valerie, diesmal direkt zu Paul. »Du kannst mit mir und Kev fahren, Paul. Mach dir wegen der Kleidung keine Sorgen. Schau, ich habe dir ein Hemd mitgebracht. Du kannst es behalten. Kev sagt, er hat noch zwei von der Sorte, und er braucht keine drei davon. Und eine Hose...« Sie musterte ihn nachdenklich. Paul spürte die Hitze an jeder Stelle seines Körpers, die ihr Blick berührte. »In einer von Kev würdest du versinken. Aber ich könnte mir vorstellen, dass eine von Mr. Brouards Hosen... komm, jetzt mach dir deswegen keine Gedanken, Kind. Mr. Brouard wäre bestimmt einverstanden. Er hat dich sehr gern gehabt, Paul. Aber das weißt du ja. Ganz gleich, was er gesagt oder getan hat, er war... Er hat dich gern gehabt...« Sie geriet ins Stocken.
Paul spürte ihren Schmerz wie einen Sog, der aus ihm herauslockte, was er unterdrücken wollte. Er sah von Valerie weg zu den drei übrig gebliebenen Enten und fragte sich, wie sie alle in Zukunft zurechtkommen sollten, wenn Mr. Guy nicht mehr da war, um sie zusammenzuhalten, ihnen eine Richtung zu geben und ihnen zu sagen, wie es weitergehen sollte.
Er hörte, wie Valerie sich schnauzte, und wandte sich ihr wieder zu. Sie lächelte unsicher. »Es wäre jedenfalls schön, wenn du mitkämst. Aber wenn du nicht willst, dann mach dir deswegen keine Vorwürfe. Eine Beerdigung ist nicht für jeden das Richtige, manchmal ist es das Beste, sich der Lebenden zu erinnern, indem wir selbst leben. Das Hemd gehört auf jeden Fall dir. Es ist für dich.« Sie schaute sich um, offenbar auf der Suche nach einer sauberen Stelle, wo sie es ablegen konnte, und sagte: »Ah, da!«, als sie Pauls Rucksack liegen sah. Schon wollte sie ihn öffnen, um das Hemd hineinzustecken.
Mit einem Aufschrei riss Paul ihr das Hemd aus der Hand und schleuderte es weg. Taboo bellte scharf.
»Aber Paul!«, rief Valerie verblüfft. »Ich wollte dich nicht - es ist kein altes Hemd, Kind. Es ist fast -«
Paul packte den Rucksack. Er blickte hastig nach rechts und links. Flucht war nur auf dem Weg möglich, den er gekommen war. Und Flucht war notwendig.
Er rannte auf dem Fußweg zurück, und Taboo lief ihm kläffend hinterher. Paul schluchzte auf, als er vom Weg auf den Rasen gelangte, auf dessen anderer Seite das Haus lag. Er merkte plötzlich, dass er es müde war, davonzulaufen. Es kam ihm vor, als wäre er sein Leben lang davongelaufen.
Ruth Brouard beobachtete die Flucht des Jungen. Sie befand sich in Guys Arbeitszimmer, als Paul aus dem Laubengang an der Grenze zwischen Rasen und Teich herausgerannt kam. Sie war gerade dabei, einen Stapel Kondolenzkarten durchzusehen, die schon am Vortag eingetroffen waren, die zu öffnen sie aber bisher nicht den Mut gehabt hatte. Zuerst hörte sie den Hund bellen, dann sah sie den Jungen, der unten über den Rasen
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