12 - Wer die Wahrheit sucht
und überlebt, um es seither zum allgemeinen Gesprächsthema zu machen. Frank hatte den Eindruck, dass sein Vater mit dem nahenden Lebensende immer häufiger von der fernen Vergangenheit sprach. Vor einigen Jahren, als das angefangen hatte, war es Frank ganz recht gewesen, denn bis dahin hatte sich Graham Ouseley, trotz seines ausgeprägten Interesses am Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen und der Besatzung Guernseys im Besonderen, mit Berichten über eigene Leiden und Verdienste in dieser schrecklichen Zeit auf bewundernswerte Weise zurückgehalten. Franks diesbezügliche Fragen hatte er stets mit den Worten: »Es ging nicht um mich, mein Junge, es ging um uns alle« abgewehrt, und Frank hatte es schätzen gelernt, dass sein Vater es nicht nötig hatte, sich mit Erzählungen aufzuplustern, in denen er die Hauptrolle spielte. Aber als ahnte er, dass der Tod näher rückte, und als wollte er seinem einzigen Sohn ein Vermächtnis der Erinnerung hinterlassen, hatte Graham begonnen, ins Detail zu gehen. Und als dieser Prozess einmal ins Rollen gekommen war, schienen die Kriegserinnerungen kein Ende nehmen zu wollen.
An diesem Morgen hatte Graham einen Monolog über den Peilwagen losgelassen, den die Nazis benutzt hatten, um die letzten Kurzwellensender zu orten, mit denen die Inselbewohner sich Informationen von den so genannten Feinden holten, vor allem von den Franzosen und Engländern. »Der Letzte, den sie erwischt haben, ist in Fort George erschossen worden«, berichtete Graham. »So ein armes Schwein aus Luxemburg. Es heißt, dass sie ihn mit dem Peilwagen erwischt haben, aber wenn du mich fragst, ist er hingehängt worden. Denunzianten hat's genug gegeben, Schweine, die sich an die Deutschen verkauft haben, und Spitzel. Kollaborateure, Frank, die andere, ohne mit der Wimper zu zucken, ans Messer geliefert haben. In der Hölle sollen sie braten.«
Danach ließ er sich über die »V« - die Victory-Kampagne - aus und erzählte von den vielen, vielen Orten auf der Insel, wo auf gar nicht so geheimnisvolle Weise sich plötzlich der zweiundzwanzigste Buchstabe des Alphabets zeigte: in Kreide, in Malerfarbe, in noch feuchtem Zement und immer zur ohnmächtigen Wut der Nazis.
Und zum Schluss kam G.I.F.T. - Guernsey Independent From Terror - an die Reihe, Graham Ouseleys persönlicher Beitrag zum Widerstand. Das Jahr, das er im Gefängnis verbrachte, hatte er der Veröffentlichung dieses Nachrichtenblatts zu verdanken. Neunundzwanzig Monate lang schafften er und zwei Gleichgesinnte es, das Blatt zu verbreiten, ehe die Gestapo bei ihm an die Tür klopfte. »Ich bin angezeigt worden«, sagte Graham zu seinem Sohn. »Genau wie diese Amateurfunker. Vergiss eines nie: Wenn's hart auf hart geht, geben die Feiglinge klein bei. Es ist immer das Gleiche. Die Leute werden zu Verrätern, wenn sie was für sich rausschlagen können. Aber wir werden dafür sorgen, dass sie am Ende büßen. Es kann lang dauern, aber sie werden bezahlen.«
Als Frank ging, sprach sein Vater, der es sich mittlerweile vor dem Fernsehapparat bequem gemacht hatte, um seine erste Soap des Tages nicht zu verpassen, immer noch über dieses Thema. Frank erklärte ihm, dass Mrs. Petit in der nächsten Stunde nach ihm sehen würde, weil er selbst in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit nach St. Peter Port müsse. Von der Beerdigung sagte er nichts, weil er Guy Brouards Tod noch immer nicht erwähnt hatte.
Zum Glück fragte sein Vater nicht, was das denn für eine geschäftliche Angelegenheit sei. Ein Crescendo dramatischer Musik aus dem Fernsehapparat verlangte seine Aufmerksamkeit, und sofort war er gefesselt von der Szene auf dem Bildschirm, in der zwei Frauen, ein Mann, eine Art Terrier und eine intrigante Schwiegermutter vorkamen. Frank nutzte die Gelegenheit und ging.
Es gab auf der Insel keine Synagoge für die kleine, hier ansässige jüdische Gemeinde, deshalb hatte man für die Trauerfeier zu Ehren Guy Brouards, obwohl er keiner christlichen Konfession angehört hatte, die Town Church, nicht weit vom Hafen von St. Peter Port, gewählt. Die Martinskirche, zu deren Gemeinde Le Reposoir eigentlich gehörte, hielt man für zu klein, um den vielen Trauernden, die in Anbetracht der Bedeutung des Toten und seiner großen Beliebtheit auf der Insel erwartet wurden, Platz zu bieten. Nahezu zehn Jahre hatte er hier gelebt und war den Einheimischen so ans Herz gewachsen, dass nicht weniger als sieben Geistliche die Trauerfeierlichkeiten für ihn
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