12 - Wer die Wahrheit sucht
Gedanke, dass jemand ihn so sehen würde, mit feuchtem Gesicht und zitternden Lippen, war ihr unerträglich. Innerhalb eines Augenblicks war er wieder das Kind und sie die Frau, die sie als seine Mutter immer gewesen war, hin und her gerissen zwischen dem Impuls, ihm zu sagen, er solle sich gefälligst zusammenreißen, bevor jemand sehe, was für ein winselnder Jammerlappen er sei, und dem Wunsch, ihn an ihre Brust zu drücken und zu trösten, während sie seinen Widersachern Rache schwor.
Aber der Gedanke an Rache führte Margaret sehr schnell zu dem Mann zurück, der Adrian heute war. Und das Blut rann ihr eisig durch die Adern, als sie daran dachte, welche Form die Rache vielleicht hier in Guernsey angenommen hatte.
Die Türklinke hinter ihrem Sohn klapperte, die Tür flog auf und traf ihn im Rücken. Eine grauhaarige Frau streckte den Kopf herein, sah Margarets starres Gesicht, sagte: »Oh! Entschuldigung!«, und verschwand wieder. Aber ihr Eindringen war Zeichen genug. Margaret drängte ihren Sohn auf den Flur hinaus.
Sie führte ihn nach oben in ihr Schlafzimmer, froh, dass Ruth sie im Westflügel des Hauses untergebracht hatte, abseits von Guys und ihrem eigenen Zimmer. Hier würden sie und ihr Sohn ungestört sein, und das war es, was sie brauchten - Ungestörtheit.
Sie drückte Adrian auf den Hocker vor ihrem Toilettentisch und nahm eine Flasche Single Malt Whisky aus ihrem Koffer. Ruth war bekanntermaßen knauserig mit Alkohol, und deshalb hatte Margaret ihre eigenen Vorräte mitgebracht. Sie goss volle zwei Fingerbreit Whisky ein und kippte ihn hinunter. Dann goss sie noch einmal ein und reichte das Glas ihrem Sohn.
»Ich mag nichts -«
»Doch, du magst. Das beruhigt die Nerven.« Sie wartete, bis er ihr gehorcht hatte und das geleerte Glas in der Hand hielt. Dann sagte sie: »Bist du ganz sicher, Adrian? Du weißt, er hat gern geflirtet. Vielleicht war es nichts weiter. Hast du sie zusammen gesehen? Hast du -« Es widerstrebte ihr, nach den hässlichen Details zu fragen, aber sie brauchte Fakten.
»Ich brauchte sie gar nicht zusammen zu sehen. Sie war mir gegenüber danach verändert. Ich habe es sofort gemerkt.«
»Hast du ihn darauf angesprochen? Es ihm auf den Kopf zugesagt?«
»Natürlich. Wofür hältst du mich?« »Und was hat er gesagt?«
»Er hat es bestritten. Aber ich habe ihn gezwungen -«
»Gezwungen?« Sie hielt den Atem an.
»Ich habe gelogen. Ich habe behauptet, sie hätte es zugegeben. Da hat er es auch zugegeben.«
»Und dann?«
»Nichts. Carmel und ich sind nach England zurückgeflogen. Den Rest weißt du.«
»Mein Gott, wie konntest du hierher zurückkommen?«, fragte sie. »Er hatte praktisch vor deiner Nase mit deiner Verlobten geschlafen. Warum bist du -«
»Weil du keine Ruhe gegeben hast, wenn du dich erinnerst«, antwortete Adrian. »Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast? Dass er sich so freuen würde, mich zu sehen?«
»Aber wenn ich das gewusst hätte, hätte ich doch niemals vorgeschlagen, geschweige denn insistiert. Adrian, um Gottes willen! Warum hast du mir nichts erzählt?«
»Weil ich beschlossen hatte, es zu benutzen«, sagte er. »Ich dachte mir, wenn ihn vernünftige Argumente nicht dazu bringen könnten, mir das Darlehen zu geben, das ich brauchte, dann vielleicht Schuldgefühle. Ich hatte nur leider vergessen, dass Dad gegen Schuldgefühle immun war. Er war gegen alles immun.« Er lächelte. Margaret gefror das Blut in den Adern, als ihr Sohn hinzufügte: »Na ja, gegen fast alles, wie sich gezeigt hat.«
9
Deborah folgte dem halbwüchsigen Jungen in einigem Abstand. Mit Fremden Gespräche anzuknüpfen, war nicht gerade ihre Stärke, aber sie dachte nicht daran, das Feld zu räumen, ohne es wenigstens versucht zu haben. Ihrem Widerstreben nachzugeben, das hätte nur die Bedenken bestätigt, die Simon bei ihrem Plan geäußert hatte, mit Cherokee - der für ihn offenbar nicht zählte - nach Guernsey zu reisen und China zu helfen. Deshalb war sie doppelt entschlossen, sich nicht von der ihr eigenen Scheu besiegen zu lassen.
Der Junge wusste nicht, dass sie hinter ihm war. Er schien kein festes Ziel zu haben. Nachdem er die Schar der Trauergäste im Skulpturengarten hinter sich gelassen hatte, hielt er auf ein Oval aus frischem grünem Rasen zu, das jenseits eines eleganten Wintergartens am einen Ende des Hauses lag. Am Rand der Rasenfläche sprang er zwischen zwei Rhododendren hindurch und hob vom Boden den dünnen Ast einer Kastanie auf, die in
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