Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
Vom Netzwerk:
dieser Gegend eine Ortschaft dieses Namens?“
    Der gute Mann konnte sich kaum von Béberts Fratze losreißen, so beeindruckt war er.
    „Ja, Monsieur“, sagte er schließlich zu mir. „Etwa fünf Kilometer von hier.“
    „Wie kommt man dahin?“
    „Früher mit dem Bus, aber heute muß man zu Fuß gehen.“
    „Dann seien Sie bitte so nett und sagen uns, wie wir gehen müssen.“
    Er war so nett. Wir machten uns auf den Weg. Der Wind hatte aufgehört, dafür schneite es. Aber ich war guter Dinge. Ich kam meinem Ziel näher und... rieb mir die Hände. Denn kalt war’s trotzdem.
    Wir kamen in La Ferté-Combettes an. Eine weiße Schneedecke bedeckte das kleine Dorf. Es bestand aus drei Häusern, einer Kirche und einigen Bauernhöfen, die sich vornehm etwas abseits hielten. Bébert sah sich aufmerksam um, schnupperte wie ein Jagdhund. Plötzlich rannte er los, ich hinterher. Alle Unsicherheit war von ihm gewichen. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf ein Bauernhaus. Ein dünner Rauchfaden stieg aus dem Kamin auf.
    „Das ist der Bauernhof“, sagte er. „Unsere erste Etappe. Ich erkenne die windschiefe Scheune wieder. Dahinter muß ein Teich liegen.“
    Wir machten noch ein paar Schritte, gingen eine Böschung hinauf. Tatsächlich, hinter der Scheune war ein Teich. Die Eisfläche verschwand langsam unter dem Schnee.
    „Genau hier war es“, sagte Bébert.
    Er führte mich über einen geschlängelten Weg, bis er nach einer Weile auf ein Schild zeigte. La Ferté-Combettes, 1 Kilometer, stand darauf. Wir gingen noch etwas weiter zu einem kleinen Wäldchen.
    „Wir wurden etwas weiter weg gefangengenommen“, erklärte Bébert.
    „Interessiert mich nicht“, knurrte ich. „Ich suche die Stelle, an der La Globule euch über den Weg gekrochen ist.“
    „Das war hier.“
    „Bist du sicher?“
    „Ganz sicher.“
    Er ging ein paar Schritte, drehte sich um und sagte:
    „Wir kamen aus dieser Richtung, weil wir ja zu dem Bauernhof wollten. La Globule ist aus dem Wäldchen da rausgekrochen.“
    „Ausgezeichnet.“
    Ich ging auf das Wäldchen zu. Bébert hinter mir verlangte seine Zigaretten. Ich gab sie ihm und verschwand zwischen den Bäumen. Bébert folgte mir.
    Der Wald war größer und dichter, als ich gedacht hatte. Ich stürmte vorwärts, trat achtlos auf knackende Zweige und Reisig. Sechs Monate nach dem Vorfall hier nach Indizien zu suchen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich rannte aber trotzdem weiter.
    Und dann wurden meine Mühe und mein Glauben an mich selbst belohnt: Auf einer kleinen Lichtung erblickten wir ein einsames Haus. Es war von Unkraut umgeben und wirkte überhaupt unerträglich trostlos, beklemmend. Die Fassade verschwand zum großen Teil hinter Efeu, das sogar ein Fenster in der ersten Etage überwuchert hatte. Alle Fensterläden waren geschlossen. Auf den Stufen der Außentreppe sah man unter der dünnen Schneedecke einen Teppich aus vermoderten Blättern. Das Gartentor quietschte in den rostigen Angeln. Die Haustür war nur angelehnt. Auch sie stöhnte, als ich sie mit dem Fuß aufstieß. Ein widerlich modriger Gestank empfing uns in dem verlassenen Haus.
    Ich knipste meine Taschenlampe an. Wir befanden uns in einem Flur, von dem vier Türen abgingen. Dahinter lagen die Küche, eine Art Rumpelkammer, ein großes Wohnzimmer und so was Ähnliches wie eine Bibliothek. Zur Beleuchtung dienten große, einfache Petroleumlampen, die von den Decken hingen. Die dazugehörigen Kanister mit Petroleum fanden wir in einem Besenschrank. Die Liebe zum pittoresken Landleben ging jedoch nicht so weit, daß man keine Zentralheizung installiert hätte. Jedes Zimmer besaß einen oder zwei Heizkörper, die von einem Heizkessel im Keller versorgt wurden. Die riesigen Kamine in Bibliothek und Wohnzimmer erfüllten einen rein dekorativen Zweck.
    Rein dekorativ? Nein! Zumindest der in der Bibliothek war benutzt worden. Davon zeugten grobe, halbverkohlte Holzscheite und ein Berg Asche. Hier hatte ein Feuer gebrannt!
    Der Schein meiner Taschenlampe war zu schwach, um einen Gesamteindruck zu bekommen. Ich bat Bébert, die Fensterläden zu öffnen. Das Tageslicht, das kurz darauf hereindrang, war zwar nicht blendend hell, erleichterte aber die Durchsuchung.
    Mein Rundblick, den ich durch das triste, staubbedeckte Zimmer schickte, fiel auf einen Abreißkalender. Das Blatt zeigte den 21. Juni.
    Ich hatte des öfteren bemerkt, daß die erste Reaktion auf einen „verspäteten“ Kalender ist, ihn auf den neusten

Weitere Kostenlose Bücher