1219 - Die Abrechnung
Stelle.
Meine starre Haltung fiel auch Godwin de Salier auf, der mich flüsternd ansprach.
»Was ist passiert, John?«
Ich schüttelte nur den Kopf. Keine Ablenkung, kein Reden, nur die reine Konzentration. Auf meinem Körper hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Kleine Schweißtropfen rannen vom Nacken her nach unten. Ich spürte den Druck auf meinen Schultern und musste mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass ein Toter mit mir Kontakt aufgenommen hatte. Es war mir nicht neu, das hatte ich schon öfter erlebt, aber dass es ein Freund war, nahm mich schon mit.
Mein Name war gerufen worden. Eine neutrale Stimme im ersten Moment, obwohl ich sicher war, die Stimme des Abbé erkannt zu haben. Ich verdrehte die Augen und schielte in die Höhe, um möglicherweise etwas erkennen zu können. Aber der Abbé blieb unsichtbar in seiner Totenwelt. Nur sein Geist hatte keine Ruhe gefunden.
»Ja«, flüsterte ich…
Neben mir schabte ein Fuß über den Boden. Godwin hatte sich bewegt. Er musste durch meine schlichte Antwort überrascht worden sein. Zum Glück stellte er keine Frage, und ich dachte nicht daran, ihn anzuschauen.
»John…«
Das war sie wieder. Eine weiche Stimme. Trotzdem so akzentuiert, dass ich sie beinahe als Befehl oder als Warnung auffasste und mich für einen Moment noch stärker konzentrierte.
Da ich nicht mehr angesprochen wurde, formulierte ich die nächste Frage. »Bist du es, Abbé?«
»Ich bin es!«
Nur ich hatte die Antwort verstanden. Aber ich wusste jetzt endgültig Bescheid. Ich sprach mit einem Toten. Der Würfel, der sich mittlerweile leicht zwischen meinen Händen erwärmt hatte, hatte es mir ermöglicht.
In den folgenden Sekunden wartete ich auf den neuen Kontakt, der nicht erfolgte. Etwas glitt wie ein kalter Atemstoß in der Nähe meines Gesichts vorbei. Ich blickte zur Fahne hin und sah den Stoff, der sich leicht bewegte.
Er war da. Ganz in der Nähe. Und er wollte wieder Kontakt mit mir aufnehmen.
»Du musst Acht geben, John. Ihr alle müsst aufpassen. Es ist noch nicht vorbei. Das Böse gibt keine Ruhe, verstehst du? Es will alles, einfach alles…«
Ich nickte und hoffte, dass diese Art der Antwort auch wahrgenommen wurde.
»Sei auf der Hut, John…«
»Was ist es, Abbé?«, hauchte ich. »Bitte, wenn du kannst, dann sage es uns.«
»Ich kann es nur spüren, aber nicht sehen. Ich fühle nur, dass es stark ist. Es hat mich umgebracht, und es gibt nicht auf. Ich bin zu schwach, aber ihr dürft die Augen keinesfalls verschließen. Sage es auch Godwin. Er soll in meinem Sinne weitermachen. Ihm gehört der Würfel. Er soll ihn pfleglich behandeln. Er weiß, wie wertvoll er ist und noch sein wird…«
Die Stimme war bei den letzten Worten schwächer geworden, was mir nicht gefiel, denn ich hatte das Gefühl, dass der Geist des Abbé dabei war, sich zu verabschieden.
Mein Blick traf den Würfel!
In seinem Innern blieb es nicht ruhig. Dort bewegten sich die dunkelroten Wolken, aber sie waren in ihren Bewegungen träger geworden, und genau das passte eben zum allmählichen Verklingen der Stimme.
»Bitte«, flüsterte ich. »Noch einen Hinweis…«
»Nein, John. Kann nicht, MUSS weg, weit weg… alles… alles Gute. Versucht, zu überleben. Setzt eure Arbeit fort. Mein Leben ist vorbei. Endgültig für alle Zeiten. Irgendwann… irgendwann sehen wir uns wieder. Nicht mehr hier… nicht mehr hier, sondern in einer anderen, sehr fernen Welt…«
Schwächer und schwächer wurde die Stimme, und schließlich war sie einfach verklungen.
Nichts mehr. Nicht der geringste Laut. Ich stand mit dem Würfel in der Hand da, schaute zwar auf ihn, hatte aber das Gefühl, ins Leere zu blicken.
Der Schweiß auf meiner Stirn war kalt geworden. Er lag auf meinem Rücken und sorgte dafür, dass mein Unterhemd fest klebte. Auch zwischen meinen Händen und den Würfelwänden hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Die leicht zittrige Bewegung vor mir lenkte mich ab. Es war die Fahne der Templer, die sich ein letztes Mal bewegte, wie um einen Abschiedsgruß zu schicken.
Dann fiel sie wieder schlaff nach unten und blieb so ruhig hängen, dass sie nicht mal nachzitterte.
Ich merkte den Druck in meiner Kehle. Ich wusste auch, dass der Abbé endgültig Abschied genommen hatte. Dieses Phänomen war mir nicht zum ersten Mal widerfahren, aber es berührte mich besonders tief, weil der Abbé ein guter Freund gewesen war.
Von der Seite her sprach mich Godwin de Salier an. »John…«
Ich reagierte
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