1219 - Die Abrechnung
nicht.
»Bitte, John…«
Langsam drehte ich den Kopf und schaute in ein sehr angespanntes Gesicht.
De Salier hielt die Hände zu Fäusten geballt. Er musste sich in der letzten Zeit die Haare gerauft haben, denn sie hingen ihm in die Stirn und klebten mit den Spitzen dort fest.
»Er… er… war da, nicht?«
Ich nickte.
»Und? Hast du ihn gesehen? Ist er dir erschienen, oder was ist geschehen?«
»Nein, das ist er nicht«, erwiderte ich mit leiser Stimme. »Ich habe ihn nur gehört. Er befand sich in meinem Kopf. Er hat mir eine letzte Botschaft gebracht. Obwohl seine Stimme neutral klang, habe ich genau gewusst, dass er es war.«
»Was sagte er denn? Wie geht es ihm? Hat er Grüße aus dem Totenreich bestellt?« Godwin schaute auf den Sarg, als wäre die Leiche in der Lage, ihm die Antwort zu geben.
»Es war kein freundlicher Abschied, wenn du das meinst, Godwin. Der Abbé wollte uns warnen.«
»Bitte?«
»Ja, Godwin, und ich denke nicht, dass wir die Warnung unterschätzen sollten. Er warnte uns vor einer Gefahr, die unweigerlich auf uns alle hier zukommt.«
»Welche denn?« flüsterte der Templer staunend.
»Tut mir Leid, Godwin, aber ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht sagen können.«
»Aber es war eine Warnung?«
»Sicher. Nur eben zu allgemein gehalten.«
De Salier schloss für einen Moment die Augen. Innerlich war er aufgewühlt. Den Grund konnte ich mir gut vorstellen. Eine weitere Niederlage konnte er sich nicht erlauben. Wenn van Akkeren und seine Brut wieder zuschlugen, dann brauchten sie sich diesmal nicht auf einen Mann zu konzentrieren. Dann würden sie sich möglicherweise die Templer vornehmen, und das mit aller Konsequenz und Rücksichtslosigkeit.
»Dann ist er noch hier in der Nähe«, flüsterte Godwin, als er seine Augen wieder geöffnet hatte.
»Wir müssen leider davon ausgehen.«
»Aber du hast ihn nicht gesehen - oder?«
»Nein, das habe ich nicht.« Ich spürte wie Godwin etwas die Übersicht verlor und seine Bewegungen hektischer wurden. Er ging neben dem Sarg auf und ab. Er bewegte dabei den Kopf wie jemand, der vergebens nach einem Feind Ausschau hält. Es war seine erste große, aber auch bittere Bewährungsprobe als Templer-Anführer-, und davor schien er sich zu fürchten.
»Bitte, Godwin, du darfst nicht die Nerven verlieren und jetzt in Panik verfallen.«
De Salier blieb stehen. Seine Augen waren groß, als er mich anschaute. »Das sagst du so leicht, John.«
»Ja, ich weiß. Aber es stimmt trotzdem. Reiß dich zusammen. Verliere bitte nicht die Kontrolle. Außerdem bist du nicht allein. Du hast Menschen, auf die du dich auch in gefahrvollen Situationen verlassen kannst. Wenn du so denkst, sieht die Lage schon ganz anders aus.«
»Nein, John, nicht so. Ich habe es doch erlebt. Ich war dabei, als der Abbé starb. Van Akkeren hat mich ausgeschaltet. Ich bin kein Gegner für ihn gewesen, und das wird sich auch so fortsetzen. Glaube es mir. Es geht einfach nicht.«
»Trotzdem kann es nur die Ruhe bringen«, erklärte ich. »Jetzt den Kopf zu verlieren, wäre am schlimmsten.«
Er dachte über meine Worte nach und wurde auch ruhiger.
»Ich weiß ja, dass du Recht hast. Trotzdem fürchte ich mich vor den kommenden Stunden, einschließlich der Beerdigung.«
»Das kann ich verstehen.«
»Und wie ergeht es dir?«
Ich wusste, dass er Worte brauchte, die ihn aufbauten, und nickte ihm vor der Antwort zu. »Es geht mir bestimmt nicht optimal, Godwin, aber ich stecke den Kopf nicht in den Sand. Wir wissen in gewisser Hinsicht Bescheid und können uns darauf einrichten, dass van Akkeren nicht aufgegeben hat.«
»Bringt uns das weiter?«
»Zumindest im Kopf«, erwiderte ich lächelnd. »Wir sind gewarnt und darauf gefasst, nicht mehr so leicht überrascht werden zu können. Das ist auch etwas. Außerdem werden wir es nicht für uns behalten, denn wir müssen die anderen warnen.«
»Das wollte ich auch vorschlagen.« Er schaute mich an.
»Technisch ist wieder alles in Ordnung. Die Reparatur ist gelungen und wir haben wieder Kontakt mit der Außenwelt. Eine kleine Hoffnung, aber immerhin ist sie eine.«
»Das meine ich auch.«
Godwin drehte sich von mir weg und warf einen Blick in das starre Gesicht des Toten. Der Abbé sah wirklich aus wie ein Schlafender, der jeden Moment erwachen konnte, wenn man ihn anstieß.
Wir gingen auf leisen Sohlen zur Tür. Ich hatte sie zuerst erreicht und grübelte darüber nach, was der Geist des Abbé wohl gemeint haben
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