1227 - Verschollen im Mittelalter
Legateninstitut und päpstlichen Gerichtshof, über Exkommunikation, Kirchenbann und Inquisition, die Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner, über Kreuzzüge und den deutschen Ritterorden sowie die Errichtung des Lateinischen Kaiserreichs von Konstantinopel im Namen des Herrn.
Professor van der Saale war das krasse Gegenteil von Professor Ganzauge. Nicht nur äußerlich. Sie fesselte ihre Schüler durch packende Schilderungen, ließ sie teilhaben an den Intrigen und Machtkämpfen der Großen, erweckte Ritter und Mönche, Kaiser und Päpste zum Leben, öffnete die Seelen der finsteren Helfershelfer und gab Nelson und den anderen bei all dem das Gefühl, selbst dabei zu sein, im Schlamm der Städte zu waten, den allgegenwärtigen Gestank zu ertragen, die alltägliche Gewalt und das Gewohnheitsrecht des Stärkeren.
Als Beethoven das Ende der ersten Stunde erklingen ließ, hatte Nelson Mühe, in die Gegenwart zurückzufinden. Er trat ans Fenster, sah die wuchtigen Burgmauern hinab, ließ seine Blicke über die Ebene schweifen und versuchte sich vorzustellen, wie die Gegend und die Burg wohl vor tausend Jahren ausgesehen haben mochten.
Ob Levent darauf eine Antwort wusste?
Er ging zu den anderen zurück und folgte einer plötzlichen Eingebung. »Kanntest du eigentlich Levent?«, fragte er Judith, die auf ihrem Tisch hockte und Löcher in die Luft stierte.
»Levent?« Sie überlegte einen Augenblick. »Nicht wirklich, würde ich sagen. Klar haben wir uns ein paar Mal unterhalten. Aber eigentlich ließ er keinen so richtig an sich ran. Ein Psycho eben, wie wir alle.«
War einen Versuch wert, dachte Nelson und setzte sich.
»Ich kannte ihn etwas besser«, sagte Luk plötzlich.
Nelson sah ihn erwartungsvoll an.
»Wir haben oft zusammengehangen«, fuhr Luk fort, »bevor er verschwunden ist. Kennst du die Geschichte?«
Nelson nickte.
»Einige Wochen vorher hat er mich angequatscht. Ich sollte ihm alles über das hohe Mittelalter erzählen. Mein Spezialgebiet.«
»Erzähl«, forderte ihn Nelson auf.
»Er war vor allem an praktischen Dingen interessiert. Wie die Menschen gelebt haben und so, was sie gegessen haben, welche Dialekte sie gesprochen haben, wie sie sich gekleidet haben. Wollte alles haargenau wissen. Voll der Staubsauger! Hat mich genervt, weil er immer ungeduldiger wurde. Als ob ihm die Zeit davonrannte. Überhaupt verhielt er sich am Ende immer merkwürdiger. Einmal meinte er, dass er die Geschichte umschreiben würde. Ziemlich großkotzig, oder?«
»Hat er sich auch nach bestimmten Berufen erkundigt?«, hakte Nelson nach.
Luk dachte einen Moment nach. »Wenn du so fragst – am meisten hatten’s ihm die Spielmänner angetan. Du weißt schon, Akrobaten, Gaukler, Minnesänger. Einmal hat er mich sogar gefragt, ob er selbst als Troubadour durchgehen könnte. Ich hab gelacht und da ist er wütend geworden. Das war’s dann. Dabei habe ich mir bloß vorgestellt, wie sie ihn knebeln und an einen Baum fesseln, du weißt schon, wie Troubadix.« Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Dann, plötzlich, fixierte er Nelson und sah ihn durchdringend an. »Wieso willst du das eigentlich alles wissen, wenn ich fragen darf?«
Auch Judith war inzwischen aufmerksam geworden. »Haben sie ihn gefunden?«, fragte sie gespannt.
Nelson schüttelte den Kopf. In diesem Moment traf er eine Entscheidung. »Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?«, fragte er. Die beiden blickten ihn skeptisch an, rückten aber näher. »Ich glaube, ich weiß, wohin Levent verschwun…«
In diesem Moment jedoch stöckelte Professor van der Saale zurück ins Klassenzimmer. »Nun, meine Lieben, die Kreuzritter erklaarten, in das Auftrag von Gott zu handeln«, fuhr sie fort, als sei sie die letzten zehn Minuten gar nicht weg gewesen, »doch in die Wahrheit war Beutemachen das erste Ziel. Splitter von dem Kreuze Christi oder rostige Nagel, Reliquien über Reliquien, Schmuck und Gold, Waffen und sonstige wertvolle Waren – die christliche Eroberer klauten, was ihnen in die schmutzigen Finger kam. Die Muslime und die Juden wurden vermoord, versklavt oder gefangen genommen. Sie kamen nur frei, wenn ihre Angehörigen ein sattes Losegeld betalten. Da waren sie alle dieselben: Ob Friedrich II. der seit seiner Traumhochzeit mit Isabella von Brienne zwölfhundertfünfundzwanzig den Titel ›König von Jerusalem‹ trug, oder der große Friedrich Barbarossa, der, wie ihr wohl wisst, elfhondertneunzig auf die dritte Kreuzzug beim Baden –
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