1227 - Verschollen im Mittelalter
brachen die Aufzeichnungen jäh ab. Levents letzte Sätze klangen wie ein Vermächtnis:
Manchmal müssen wir fortgehen um anzukommen. Wir reisen in die Vergangenheit und landen in der Zukunft. Hoffentlich kehre ich von dort zurück, im Gepäck einen untrüglichen Beweis, der all diese verdammten Skeptiker zum Schweigen bringt, auf dass ihre Münder vor Staunen offen stehen bleiben bis in alle Ewigkeit.
Den ganzen folgenden Tag zerbrach sich Nelson den Kopf, wie er es anstellen konnte, Levents Spur in die Vergangenheit zu folgen.
Der Vermisste war ihm in der letzten Nacht sehr nahe gekommen – aus seinen Worten klang dieselbe Begeisterung, die auch Nelson bei dem Gedanken empfand, längst versunkene Welten nicht bloß auszugraben, sondern darin spazieren zu gehen, mit den Menschen zu reden, von ihren Vorstellungen, von ihren Sehnsüchten zu erfahren.
Und doch war er Levent nicht nahe genug gekommen. Selbst wenn er sich die technischen Voraussetzungen beschaffen konnte, wäre es doch ganz und gar unmöglich, Levent da aufzuspüren, wo er sich gerade befand. Das Mittelalter, wenn Levent denn wirklich dorthin gereist war, erstreckte sich über einen Zeitraum von tausend Jahren! Spielmänner hatte es innerhalb dieser Periode immer und überall gegeben. Letztlich konnte sich Nelson noch nicht einmal sicher sein, ob Levent wirklich diese Art der Tarnung gewählt hatte. Vielleicht war er am Ende in die Rolle eines Novizen geschlüpft oder wanderte im Kostüm eines Handwerksgesellen durchs Land.
Woran Nelson keinerlei Zweifel hegte: dass Levent tatsächlich in die Zeit gereist war und sein spurloses Verschwinden keinesfalls geplant hatte.
Ihm fehlte jedoch der entscheidende Hinweis: das genaue Datum sowie die exakte Uhrzeit, wann Levent in der Vergangenheit gelandet war. Berücksichtigte man die Tatsache, dass die gültige Zeitrechnung im Laufe der Jahrhunderte mehrfach verändert oder angeglichen worden war, dann konnte man ohne exakte Angaben unter Umständen glatt um Tage oder Monate danebentreffen. Immerhin gab es Computerprogramme, die die geänderten Voraussetzungen in null Komma nichts berechneten und die Daten aus alten Quellen unserer Zeitrechnung anpassten. Nelson war sicher, dass Levent ein solches Programm benutzt hatte. Aber was brachte ihm dieses Wissen? Nichts! Ohne das Zieldatum würde er Levent niemals aufspüren.
Der einzige Lichtblick an diesem trüben Tag war Judith, die er unverhofft im Kurs für Mediävistik traf. Am Morgen hatte er Professor van der Saale gefragt, ob sie ihn noch in ihren Unterricht zur Kultur des Mittelalters aufnehmen könne. Sie hatte erfreut zugestimmt, und das, obwohl bereits die Hälfte des vorgesehenen Stoffs behandelt worden war.
Als Nelson am Nachmittag das Klassenzimmer im Südturm betrat, wurde ihm schlagartig klar, warum Professor van der Saale bei ihm eine Ausnahme gemacht hatte. Ganze sieben Schüler verloren sich in dem riesigen Dachgeschossraum. Einer von ihnen war Judith, die ebenso überrascht war wie er selbst.
»Lord Nelson, seid gegrüßt. Was verschlägt denn Euch in die Niederungen der verstaubten Geschichtswissenschaft?«
Hinter ihr entdeckte er Luk, der kurz aufsah und ihm zunickte.
»Hab wohl zu viel Zeit«, antwortete Nelson und grinste schief.
Professor van der Saale kam zehn Minuten zu spät. Sie war groß, sehr schlank, schwarzhaarig und auffallend hübsch. Nelson bemerkte, wie sich Luk, neben dem er Platz genommen hatte, streckte, als sie den Raum betrat. An diesem Tag trug sie einen ziemlich kurzen Rock und ziemlich hohe Stöckelschuhe, die sie noch ein Stückchen größer wirken ließen.
Judith drehte sich zu Nelson um. »Gerade fällt mir ein, wo für dich hier der Praxisbezug liegen könnte«, raunte sie und grinste spöttisch. Dabei schielte sie auf die langen Beine ihrer Lehrerin.
»Ik begrüße euch zu unseren Kurs, meine Lieben!«, rief Professor van der Saale fröhlich und schwang sich aufs Pult. »Nelson wird den restlichen Zeit mit uns lernen. Ik verontschuldige mich für mein hübsche Verspeitung, ein völlig durchgeknallter Telefonierer hat mich Nerven gekostet. Wo sind wir gewesen beim laatste Maal?«
Luks Arm schnellte nach oben. »Wir haben die Kreuzzüge besprochen, insbesondere den Konflikt zwischen Friedrich II. und Papst Gregor X.«
»Ja, ein Stückchen met viel Brisanz, dat uns zeigt, wie mächtig de Kirche was in diese Zeit.«
In der folgenden halben Stunde erfuhr Nelson eine Menge über Kardinalskollegium,
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