1227 - Verschollen im Mittelalter
Rosenstoltz hob die Hand. Gespannt vernahmen die Zuschauer, was er zu verkünden hatte: »In den Katakomben unserer Burg gewärtigt ein junger Spielmann seinen Prozess. Er wird der Zauberei bezichtigt. Die edle Jungfrau Melisande hingegen beteuert seine Unschuld und schwört, dass sie ihn kennt. Es ist ihr Begehr, die Türe seines Kerkers zu öffnen und ihn seiner Wege ziehen zu lassen. In Angedenken an den unglücklichen Helden unseres Turniers sei ihr dieser Wunsch gewährt.«
Der Fürst machte dem Burgvogt ein Zeichen, der wiederum die Wachen anwies den Gefangenen zu holen.
Nelson stieß Luk in die Seite. »Komm«, flüsterte er. »Es wird Zeit.«
Als sie sich von Bruder Knollennase verabschieden wollten, blickte sie dieser betreten an. »Ihr wollt fort? Das Beste kommt doch…«
»Wir haben genug gesehen«, unterbrach ihn Nelson.
»Aber ihr bleibt doch über Nacht?« Nelson wunderte sich über das Flehen in seinem Blick.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder Tadeus. Uns steht der Sinn nach innerer Einkehr. Wir folgen Bruder Ignatio um mit ihm gemeinsam zu beten. Für das Seelenheil des blauen Reiters und all jener, die in Zukunft sein schreckliches Schicksal teilen werden.«
»Wartet einen Moment.« Tadeus griff in seine riesige Tasche und zog die Phiole mit ihrem wundersamen Inhalt hervor. Er reichte sie ihm. »Hüte diesen Schatz wie deinen Augapfel«, flüsterte er. »Auf dass dich das Blut unseres Heilands stets an das Opfer erinnere, das Er auf sich nahm, um die Menschen von ihren Sünden reinzuwaschen.«
Nelson dankte ihm stumm. Er betrachtete die Phiole in seiner Hand und wusste in diesem Moment, dass sie ihn zumindest an jenes Opfer erinnern würde, das der blaue Reiter gebracht hatte – sein Leben für das eines anderen, den er nicht einmal gekannt hatte.
Er griff ebenfalls in seine Tasche und drückte dem staunenden Dominikaner den heiligen Krokodilzahn in die Hand. »Hoffentlich bringt er dir mehr Glück als mir.«
Sie verließen den Ort der Trauer ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Weg zum Kräutergarten schwiegen sie. Severin und Adiva erwarteten sie bereits. Das Mädchen war total verängstigt – kein Wunder nach all dem, was sie hatte miterleben müssen.
»Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass wir nicht im Schmerz auseinander gehen«, sagte der Blinde. »Aber vielleicht will uns Gott auf diese Weise daran erinnern, wie nah Glück und Trauer beieinander liegen.«
Sie hockten sich auf ihren angestammten Platz hinter den Büschen und warteten. Die Sonne war längst untergegangen und das Abendrot verblasste zusehends in eine graublaue Nacht. Die Minuten verrannen, ohne dass etwas geschah. Hin und wieder hörten sie die Stimmen jener, die vom Turnierplatz zurückkehrten, doch ihre Freunde waren nicht dabei. Nelson wurde immer unruhiger. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn, die von Minute zu Minute wuchs und irgendwann in die Gewissheit mündete, dass noch etwas Schreckliches passiert war.
»Ruhig, mein Freund«, flüsterte Severin und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Unsere schöne Melisande wird noch ein letztes Gebet für unseren Ritter sprechen. Das erwarten die Menschen von ihr. Du wirst sehen, bald seid ihr und euer unbekannter Freund vereint.«
Doch dieses eine Mal irrte Severin. Als Judith und Schwester Clothilde endlich eintrafen, waren sie allein. Judith sah noch elender aus als vorhin. Die langen Haare waren völlig zerzaust, Tränen rannen ihr über die Wangen und hinterließen Schlieren schwarzer Schminke. Sie schluchzte nur noch und brachte kein einziges Wort heraus.
»Sie haben ihn fortgeschafft«, wetterte Lioba. »Die elenden Hunde müssen etwas geahnt haben.«
»Alpais!«, schnaubte Severin.
Nelsons Gedanken überschlugen sich. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Womöglich waren sie belauscht worden. Die Mauern und Bäume hier haben Ohren – Severin hatte sie gewarnt. Vielleicht wollten Alpais und seine Schergen aber auch nur sichergehen, dass ihnen bei ihrer grausamen Rache niemand in die Quere kam. Schließlich wimmelte es auf der Burg zur Zeit von Höflingen und Kirchenoberen, die bei der Verurteilung eines Zauberers womöglich ein Wort mitreden wollten. Auf jeden Fall hatte sich Alpais nicht ohne Grund so schnell in seine Niederlage gefügt. Er hatte sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht, um seine unheilige Mission zu vollenden.
»Wo sind sie hin?!«, rief Nelson.
»Keiner weiß etwas«, erwiderte Lioba. »Nur dass sie ihn
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