1239 - Bilderbuch des Schreckens
wusste sehr gut, was ich damit meinte, denn ich hatte so etwas wie ein Startsignal gegeben, und so bewegten wir uns mit vorsichtigen Schritten auf das Haus zu. Dort rührte sich nichts. Es gab keine Bewegungen, aber wir ließen uns nicht täuschen. Nicht alles, was sich hinter den Mauern befand, schlief.
Plötzlich war das Geräusch wieder da. Diesmal lauter, weil näher. Das Brausen, vermischt mit einem leichten Pfeifen, war keine Täuschung. Wir hoben automatisch unsere Köpfe an und sahen einen schwarzen Gegenstand durch die Luft fliegen.
Ein Vogel war es nicht, das erkannten wir beim ersten Hinschauen. Wir verfolgten den Gegenstand mit den Blicken und stellten fest, dass er sich ein Ziel ausgesucht hatte.
Er huschte von uns weg und genau auf das Haus zu. Leider geriet das Wesen nicht in den Schein an einem der Fenster, aber das Ziel blieb bestehen.
Für einen Moment schien das fliegende Etwas über dem Haus zu verharren, dann sackte es dem Dach entgegen und landete dicht neben einem schlanken Kamin, aus dessen Öffnung leichter Rauch quoll.
Leider war es auf dem Dach zu dunkel, so verschmolz der Körper mit dem Kamin und der Finsternis in seiner Nähe.
»Sag mal, was du gesehen hast, John.«
»Leider nicht viel.«
»Genauer.«
»Es war ein Mensch.«
»Ja.«
»Ein fliegender Mensch, der…«
Suko ließ mich nicht ausreden. »…der sich an einem Besen oder Stock festklammerte, John. Es könnte sich um eine Hexe gehandelt haben, und zwar um eine, wie man sie sich immer als Kind vorstellt. Eine böse Märchenhexe, und genau das passt hierher. Eine Hexe, die auf einem Besen durch die Luft reitet.«
Ich lachte nicht, obwohl viele Menschen Suko für überspannt gehalten hätten. Wir hatten schon zuviel erlebt, um außergewöhnliche Dinge in das Reich der Fabel zu verbannen. Und wenn ich ehrlich bin, dann passte eine auf einem Besen reitende Hexe irgendwie in die Szenerie. Nur war das vor uns kein Knusperhaus.
Suko legte eine Hand gegen sein linkes Ohr. »Höre ich von dir ein Gegenargument?«
»Nein, das hörst du nicht.«
»Sehr gut. Dann stimmst du mir zu?«
»Im Prinzip schon. Hast du denn eine Hexe erkannt? Eine Gestalt, die auf einem Besen durch die Luft reitet?«
»In etwa. Sie glich den Hexen, die man oft in Büchern sieht. Sie trug eine Flatterkleidung und hatte nichts mit den Hexen zu tun, wie wir sie kennen. Also keine modernen Frauen in einer bestimmten Bewegung oder so. Das war eine Hexe, wie man sie Kindern beschreibt und wie sie in den Büchern abgebildet ist. Glaube ich…«
»Dann sollten wir auch davon ausgehen.«
Mein Blick ließ das Haus nicht los. Ich schaute sehr genau hin. Vor allen Dingen interessierte mich das Dach. Leider bewegte sich dort nichts. Den Gefallen tat man mir nicht. Doch ich glaubte meinem Freund. Er hatte die besseren Augen von uns.
»Okay, wenn das so ist, werden wir uns das Hexe nhaus mal näher ansehen.«
»Das wollte ich gerade vorschlagen, John.«
Wir mussten nur die Wiese überqueren, um das Ziel zu erreichen. Kein großes Problem, aber die nahe Vergangenheit hatte uns gelehrt, vorsichtig zu sein, und so verhielten wir uns auch.
Die Natur blieb stumm. In der kalten Luft hatte sich ein leichter Dunst gebildet, der aber nicht mit dem Nebel der vergangenen Nacht zu vergleichen war, denn hier störte er kaum. Das Gras war hoch und feucht. Und es blieb weiterhin sehr still. Wir hörten weder einen Tier- noch einen Mensche nlaut. Von den drei anderen Gestalten war ebenfalls nichts zu sehen. Auf dem Dach des Hauses blieb es ruhig. Ich wäre gern hochgeklettert, um mir diese Hexe anzuschauen, denn so etwas wie sie war mir noch nie begegnet.
Das Haus stand auf einem Grundstück, das nicht eingezäunt war. Da wussten wohl nur die Bewohner selbst, wo es anfing und endete, aber wer lebte hinter den Mauern?
Normale Menschen oder irgendwelche Gestalten aus der Geister- und Märchenwelt? Wir mussten mit beidem rechnen.
Die dunkle Haustür jedenfalls gab uns keine Auskunft. Zwei flache Stufen führten zu ihr hoch. Es gab in ihrer Nähe auch kleine Fenster, deren Vierecke schwach erleuchtet waren.
Wir zuckten beide zusammen, als wir plötzlich das grässliche Lachen hörten. Obwohl wir die Person nicht kannten, wussten wir sofort, wer da gelacht hatte.
Es war die Besenhexe!
Das Lachen erreichte uns von oben. Es schallte über das Dach hinweg und malträtierte unser Gehör.
Ich blickte in die Höhe. Der Winkel war sehr schlecht geworden, sodass ich nichts sah.
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