1239 - Bilderbuch des Schreckens
Ich hätte mir gewünscht, die Gestalt am Rande des Daches auftauchen zu sehen, aber sie hielt sich zurück. Das Lachen schwoll noch einmal an, erwischte uns abgehackt und meckernd, bis es von einer Sekunde auf die andere verstummte.
Wieder legte sich die Stille über die Umgebung, und wir blickten uns an.
»War das die Begrüßung, John?«
»Keine Ahnung. Aber ich bin gespannt, wer uns öffnen wird. Vorausgesetzt, es ist jemand zu Hause.«
Nach einer Klingel hielt ich vergeblich Ausschau. Wer in das Haus hineinwollte, der musste sich anders bemerkbar machen.
Und zwar durch ein heftiges Klopfen, und das erreichte ich, indem ich nach einem Türklopfer aus Eisen griff und damit einige Male gegen das Holz hämmerte, wobei sich die dumpfen Echos auf der anderen Seite innerhalb des Hauses verteilten.
Suko hielt sich im Hintergrund und beobachtete die Umgebung. Noch tat sich nichts im Haus, aber Suko, der einen besseren Blickwinkel hatte, meldete mir, dass er hinter einem Fenster eine Bewegung gesehen hatte.
Ich stellte keine Frage, wer es gewesen war, denn schon zwei Sekunden später hörte ich an der anderen Türseite entsprechende Geräusche, und dann zog jemand die Tür vorsichtig auf.
Ich war überrascht, als ich die Person sah. Es war keine Hexe, die auf einem Besen ritt, sondern eine normale Frau…
***
Sie musste mir wohl die Überraschung am Gesicht abgelesen haben, denn um ihren Mund herum bildeten sich die Fältchen, die zu einem feinen Lächeln gehörten.
»Ja bitte?«, fragte sie mit einer leisen und auch sehr weich klingenden Stimme.
»Guten Abend«, grüßte ich. »Sie brauchen keine Angst zu haben, dass wir Sie hier überfallen wollen, Madam…«
»Nein, nein, das habe ich auch nicht. Das auf keinen Fall, aber wie kommen Sie hierher?«
Ihre Sicherheit überraschte mich schon. Nicht jede Frau hätte so reagiert, wenn sie am späten Abend plötzlich von zwei fremden Männern besucht wurde und das noch in einer tiefen Einsamkeit, in der es so gut wie keine Hilfe gab.
Sie musste sich sehr sicher fühlen, und möglicherweise baute sie auf die ungewöhnlichen Gestalten, die die Umgebung des Hauses bevölkerten.
»Das ist eine etwas längere Geschichte«, sagte ich. »Wenn es möglich ist, würden wir gern im Haus mit Ihnen darüber reden, Madam.«
Helle Augen schauten mich an, Suko ebenfalls, und dann hatten wir die Prüfung bestanden, denn sie nickte uns zu.
»Bitte, ich habe nichts dagegen, wenn Sie eintreten wollen.«
»Danke.«
Sie gab die Tür frei. Ich passierte die Frau als Erster, gefolgt von Suko.
In der Zwischenze it hatte ich sie mir anschauen können. Ihr Alter lag um die vierzig, vielleicht etwas darunter. Das dunkelblonde Haar war halblang geschnitten und hing bis zu den Ohren herab. Im Nacken wuchsen die Spitzen etwas länger, und sie fielen auch als Fransen in ihre Stirn hinein.
Ein schmales Gesicht mit hellen Augen, einem kleinen Mund und einer etwas blassen Haut. Bekleidet war sie mit einer dunklen Hose und einer weißen, recht langen Bluse, die bis zu den Hüften reichte. Als wärmendes Oberteil trug sie dazu noch eine Weste aus Wildleder.
Nachdem Suko die Tür geschlossen hatte, stellten wir uns namentlich vor und sahen ihr Nicken.
»Aber Sie kommen nicht von hier - oder?«
»Nein, aus London.«
»Aha.«
Mehr wollte sie gar nicht wissen. Das kam mir schon etwas seltsam vor. Jetzt fiel mir auf, dass um ihren Hals eine schmale Kette aus Glasperlen hing. Die schmalen Kugeln besaßen allesamt eine unterschiedliche Farbe, wobei der blaue Grundton bestehen blieb.
»Ich heiße übrigens Janet Olden.« Sie lächelte etwas verlegen. »Le ider kann ich Ihnen außer Tee nichts zu Trinken anbieten. Wenn Sie sich damit zufrieden geben können, dann…«
»Danke, das ist nett«, sagte ich, »aber wir wollen auch nicht zu lange bleiben.«
»Ja, natürlich. Aber wir sollten nicht hier stehen bleiben. Kommen Sie ins Wohnzimmer.«
»Gern.«
Janet Olden ging vor. Sie trug weiche Schuhe, und ihre Schritte waren kaum zu hören. Suko warf mir mit hochgezogenen Brauen einen fragenden Blick zu, denn auch ihm kam das Verhalten der Frau rätselhaft vor, weil sie einfach keine Scheu vor Fremden zeigte, und das zu dieser späten Uhrzeit.
Ihr Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet. Etwas rustikal, aber das passte hierher. Die Möbel sahen aus wie selbstgezimmert, und die bunten Teppiche auf dem Holzboden wie von eigener Hand geknüpft. Einen Fernseher sah ich nicht, dafür roch es nach
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