124 - Die weisse Frau vom Gespensterturm
liebestollen
Lady. Es wird erzählt dass sie ihren ganzen Charme ausspielte, um das Herz des
enttäuschten Lord of Chester zu erweichen. Und es sei ihr gelungen. Sie habe ihn
dazu gebracht, zu ihr in den Turm zu kommen, um sich auszusprechen, wie es
offiziell hieß. Das geschah am neunten Tag ihrer Gefangenschaft, in der sie bei
Wasser und Brot gehalten worden war. Lord of Chester, so heißt es weiter
scheint, die Absicht gehabt zu haben, noch mal neu zu beginnen. Aber dazu ließ
Lady Myra ihm keine Gelegenheit. Der Lord kam nie wieder aus dem Turm. Es wird
von fürchterlichen Schreien und Geräuschen gesprochen, die in der Nacht,
nachdem er zu der eingesperrten Frau gegangen war, laut wurden. Sie waren bis
zum Schloss zu hören. Herbeieilende Diener wollten helfen und versuchten in den
Turm einzudringen.“
Während des
Berichtes, den Martin Bernauer gab, war die Zeit wie im Flug vergangen, und der
junge Student aus Stuttgart unterbrach sich, als jenseits der Kurve ein
bewaldeter Hügel auftauchte.
„Da vom ist
der Turm!“, sagte Bernauer schnell.
„Wo? Ich kann
nichts sehen widersprach Salwin.
„Ich auch
noch nicht! Aber ich weiß es! Ich habe Hunderte von Bildern gesehen. Er steht
dort oben auf dem Hügel. Würden deine Scheinwerfer weitertragen, könnte man ihn
jetzt sehen. Gedulde dich noch ein paar Minuten. Von der Stelle aus, an der ich
dich gebeten habe, mich abzusetzen, kann man die Turmruine gut ausmachen. Die
letzte Strecke des Weges lässt sich sowieso nicht mit dem Wagen zurücklegen.
Der Pfad ist zu schmal, zu steinig und zu steil ..."
„Wie geht’s
mit der Geschichte weiter?“, erinnerte Rolf Salwin an den unterbrochenen
Bericht seines Reisebegleiters.
„Da gibt’s
nicht mehr viel zu erzählen, Rolf. Die Diener waren nicht imstande, die Tür zu
öffnen.“
„Dann hätten
sie durch die Turmfenster steigen oder die Tür mit Gewalt aufbrechen können.“
„Das haben
sie alles versucht. So schlau waren die auch. Die dicksten Stangen brachen ab,
die Tür blieb verschlossen. Beim Versuch, durch die Fenster zu steigen,
krachten die Sprossen der Leitern. Mit Stangen und Steinen gingen die Helfer
schließlich vor, das Glas der Fenster zu zerbrechen. Es widerstand jedem
Ansturm ... Da hielt sie nichts länger an diesem Ort. Hier ging es nicht mit
rechten Dingen zu. Die Helfer stoben in alle Himmelsrichtungen davon und kamen
nie wieder. Nie wieder kamen auch die schöne Lady Myra und ihr Liebhaber, Lord
of Chester, zum Vorschein. Sie blieben verschwunden. Das verlassene Schloss
wurde später von Banden geplündert und bei kriegerischen Auseinandersetzungen
zerstört. Dabei bekam auch der mysteriöse Turm einiges ab. Während von dem
ehemaligen Jagdschloss des Lord of Chester und seiner Geliebten nur noch die
Grundmauern stehen, ist der Turm bis auf einige schadhafte und baufällige
Stellen für sein Alter verhältnismäßig gut erhalten. In den letzten
Jahrhunderten sollen Einzelgänger, denen die Legende von Chester und Myra zu
Ohren gekommen war, versucht haben, das Geheimnis des Turmes zu ergründen. Es
war die Rede davon, dass in bestimmten Nächten - Neumond! - eine wunderschöne,
weißgekleidete Frau manchmal auf den Zinnen, manchmal in einem der winzigen
Turmfenster gesehen worden sein soll. Sie hat den Männern zugewunken, die dann
aufbrachen, um sie zu sehen. Wer angeblich in den Turm eindrang, ist jedoch nie
wiedergekommen. Wie einst den überlisteten Lord of Chester lockte sie weiterhin
junge Männer in ihr Verlies und behielt sie bei sich. Sie alle verfielen dem
Charme der Weißen Frau.“
„Die
Geschichte ist nicht weniger verrückt wie die von dem erhängten Wilderer, der
heute noch in Berry 's Comfortable Inn herumspukt und den Frauen unter den Rock
greift“, konnte Rolf Salwin sich seine Bemerkung nicht verkneifen.
„Mit einem
Unterschied“, widersprach Martin Bernauer, der Salwins Meinung nach entweder zu
leichtgläubig war oder einen Grund haben musste, dass er so überzeugt war. „Tim
Cooley, den Mädchen- und Frauenschreck, wollen einige schon gesehen haben.
Durch kein Bild oder Foto ist seine Existenz bisher jedoch nachgewiesen
worden.“
„Gibt es denn
solche Dokumente von der Weißen Frau?"
„Das will ich
meinen.“
Doch auch das
überzeugte Rolf Salwin noch nicht. Er grinste still vergnügt vor sich hin. „Die
möchte ich gern mal seh’n.“
„Ich habe
leider keine dabei. Zu Hause, in meinem Archiv, liegt ne Menge von dem
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