124 - Die weisse Frau vom Gespensterturm
wir
gemeinsam gehen werden. Ich werde Ihnen den Einlass in Ihr Haus verschaffen,
und Sie werden sich darin umsehen. Ganz beiläufig werden Sie dabei Ihrer
Tochter Harriet über den Weg laufen ... Ich bin gespannt auf ihre Reaktion.
Gleich, was immer auch geschehen wird, Sir, Sie brauchen keine Angst zu haben.
Ich bin ständig in Ihrer Nähe, bewache Sie auf Schritt und Tritt... Sie müssen
so tun, als seien Sie ganz allein gekommen. Nur dann, Sir, werden wir die
Wahrheit erfahren.“
●
Die Stille
der Nacht und Einsamkeit umgab ihn. Martin Bernauer hatte noch lange am Fenster
gestanden und Rolf Salwins entschwindendem Auto nachgeblickt. Nun war der
Student allein. Sein Lager für die Nacht hatte er sich bereitet, auf dem Boden
standen zwei Kerzen. Bernauer hatte sein Gepäck sorgfältig aufgebaut, einen
Teil davon benutzte er als Kopfkissen. Der junge Mann warf einen Blick auf die
Uhr: noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.
Er war munter
und fühlte sich voller Tatendrang. In der Seitentasche seines Rucksacks, wo er
Wanderkarten aufbewahrte, steckte auch eine Plastikhülle, in der sich ein
zusammengefalteter, DIN A3 großer Bogen befand, den er herausnahm und vor sich
auf dem Boden ausbreitete. Es handelte sich um einen sehr sauber gezeichneten,
maßstabgerechten Plan des Turmes vom Lord of Chester. Die einzelnen Kammern und
Treppenauf- und -abgänge waren eingezeichnet. Bernauer hatte die Vorlage in
einem alten Buch gefunden und maßstabgerecht vergrößert übertragen.
Die
Turmkammer, die er für die Nacht zum Schlafen ausgesucht hatte, lag auf der
Südseite, mit Blick in die Weite. Außerdem befand sich der Haupteingang in der
Nähe. Er war nur wenige Schritte von seinem Lager entfernt und schnell zu
erreichen, wenn etwas sein sollte. Martin Bernauer war alles andere als ein
ängstlicher Mensch, aber die Kenntnisse, die er über diesen Ort gewonnen hatte,
waren nicht dazu angetan, ihn zum Leichtsinn zu verleiten. In den Geschichten,
die über den Gespensterturm verbreitet waren, kam immer eines eindeutig zum
Ausdruck: jedes Mal, wenn jemand es gewagt hatte, dem Spuk auf den Grund zu
gehen, verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Ob wirklich der ruhelose Geist der
einst so schönen wie eiskalten Lady Myra dafür verantwortlich zu machen war,
oder ob in allen Fällen ganz andere Ursachen dafür verantwortlich zu machen
waren - wie zum Beispiel Raub, Überfall durch Wegelagerer oder ähnliches - war
nie wirklich geklärt worden. Im Stillen musste Bernauer sich eingestehen, dass
die Gesellschaft Salwins ihm angenehm war und auch weiterhin gewesen wäre.
Schade, dass der andere heute Nacht noch weiterfahren musste.
Der Turm -
das ging aus der Karte hervor, vorausgesetzt, dass sie echt war - bestand in
Wirklichkeit aus zwei Bauabschnitten, einem inneren und einem äußeren Turm. Der
in der Mitte war gewissermaßen eine hohle Röhre mit engen, fensterlosen Kammern
und geheimen Treppen, die verborgen hinter Wänden lagen und in das eigentliche
Zentrum führten. Offiziell führte kein Gang, keine Treppe dorthin. Bis zur
Stunde stand überhaupt nicht fest, ob es die hohle Röhre, um die schließlich
der massive Turm wie um einen langen, hohen Kern errichtet worden war, gab oder
ob dieser Geheimturm im Lauf vieler Jahrhunderte nur hinzugedichtet worden war.
Die Originalbaupläne existierten nicht mehr, und jene Menschen, die den Turm
einst erbauten, lebten nicht mehr. Sie waren seit mehr als siebenhundert Jahren
tot.
Der
dunkelhaarige, mittelgroße Mann faltete die Karte zusammen und steckte sie ohne
Schutzhülle - in der Mitte wie eine Zeitung geknickt - in seinen Gürtel. Dann
nahm er die Taschenlampe und Gaspistole an sich und verließ die Kammer mit
seinem Schlaflager. Der Eingang zu seiner Kammer war nicht durch eine Tür
geschützt. Kühle Nachtluft strömte durch den Korridor, säuselte in den hohen,
schmalen Gängen und durch offene Fenster, Löcher und Ritzen in dem morschen
Gemäuer. Bernauer hatte die Schwelle noch nicht überschritten, als er wie unter
einem Peitschenhieb zusammenzuckte. Das Spinnengewebe, mit dem vorhin der
Eingang zugesponnen war und das er eigenhändig zerrissen hatte - war wieder
vorhanden!
●
Bernauer
stand wie vom Donner gerührt da. Das konnte doch nicht sein! Er schrieb die vor
seinen Augen schimmernden und zitternden Fäden dem Wind zu, der hier tausend
Eingangsmöglichkeiten fand und in dem sich steil emporwindenden, schmalen Gang
unangenehme Zugluft verbreitete.
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