1241 - Der Mördermönch von Keitum
ich Sie auch nicht hindern. Aber wo kann ich Sie finden, Silke?«
»Ich werde nicht in meine Wohnung gehen, sondern zu Claas Claasen ins Hotel fahren. Vielleicht warte ich auch dort einen Teil der Nacht ab. Ich bin mir sicher, dass etwas geschehen wird, und hoffe nur, dass es keine unschuldige Frau trifft.«
»Das ist wirklich zu wünschen.« Sie reichte mir die Hand.
Ihre Finger zitterten dabei. »Viel Glück, John.«
»Danke, das kann ich gebrauchen.« Silke von Weser ging. Sie hielt dabei den Kopf gesenkt und schaute auch nicht auf das Haus. Es schien, als wollte sie von all den Dingen nichts mehr wissen. Sie hatte den Schrecken gesehen und war Zeugin des Unbegreiflichen geworden. Um das zu verkraften, benötigte sie Zeit, viel Zeit, und ich hoffte, dass sie diese Zeit auch bekam.
Mein weiteres Vorgehen konnte ich nicht in einen normalen Plan hineinpacken. Es gab keine Schritte, die man der Reihe nach vorging. Für mich war im Augenblick nur diese Umgebung wichtig. Hier war der Mönch erschienen, hier war er verschwunden, und hier würde er auch immer wieder auftauchen, denn irgendetwas musste ihn an diesen Ort zurückziehen, und es konnte durchaus seine Sterbestelle sein…
***
Silke von Weser hatte sich noch nie gefürchtet, wenn sie allein durch Keitum gegangen war. In diesem Fall war alles anders geworden. Dabei liebte sie auch die Tage im November, wenn die Dunkelheit früh hereinbrach, sich Dunst bildete und wie die langen Arme von Totengeistern in die Straßen und Gassen hineinkroch, um den Menschen zu zeigen, wer die wahren Herrscher waren.
Dunst hatte sich an diesem frühen Abend oder späten Nachmittag zwar gebildet, aber er war nicht zu einem hinderlichen Nebel geworden, der die Sicht nahm und alles verschlang. Er hielt sich zumeist in Bodennähe auf oder drang höchstens bis an die hellen Köpfe der wenigen Straßenlampen heran, die er dann umschlang und dafür sorgte, dass das Licht seine Klarheit verlor und zu einem gespenstischen Wesen wurde.
Jetzt leuchteten die Lichter hinter den Fenstern. Noch hatten die Geschäfte und Boutiquen nicht geschlossen. In den Lokalen wartete man auf die Gäste, die schon bald zum Essen ersche inen würden. Auf den Straßen fuhren weniger Autos, und auf dem kleinen Hügel außerhalb des Ortes stand die Kirche von St. Severin wie eine kleine Trutzburg, denn auch sie wurde in der Dunkelheit angestrahlt.
Silke von Weser mied die Hauptstraßen, wenn sie durch Keitum ging. Daran änderte sich auch in der Dunkelheit nichts.
In diesem Fall aber wollte sie so viel Licht wie möglich haben, denn die Schatten kamen ihr plötzlich gefährlich vor.
Es gab einfach zu viele von ihnen, und in jedem dieser Verstecke konnte der Mörder-Mönch lauern. Er hatte ihr nichts getan, aber sie fürchtete sich trotzdem vor ihm. Nicht so sehr aufgrund seines Anblicks, ihr machte etwas anderes mehr Angst. Er hatte sie gesehen! Ja, er hatte sie gesehen, auch wenn er keine Augen besaß. Das wusste Silke. Auf eine eigene Art und Weise hatte er sie mit seinem pechschwarzen Nichtgesicht angeschaut, und sehr genau hatte sie das kalte Grauen gespürt, das von ihm abstrahlte. Ein Grauen, das nicht zu fassen und nicht zu erklären war, das sie aber bis dicht an die Schwelle des Todes heranbringen konnte.
Als sie dieser Vergleich überkam, da erfasste sie auch eine Kälte, wie Silke sie nie zuvor erlebt hatte. So etwas konnte einfach nur durch ihre verdammte Angst entstehen, die für sie völlig neu war. Nie zuvor hatte sie dieses Gefühl überfallen, und sie lief plötzlich sehr schnell weiter, um an einer bestimmten Stelle stehen zu bleiben, weil sie von dort die angestrahlte Kirche St. Severin sehen konnte. Sie musste einfach hinschauen, um die Angst loszuwerden und ihren Mut wiederzufinden.
Wie oft schon war sie in der Kirche gewesen, um Trost zu finden, wenn es ihr schlecht gegangen war. Sie hatte ihn gefunden, und auch jetzt merkte sie, dass die kalte Angst allmählich von ihr abfloss und sie wieder zu einem normalen Menschen wurde.
Du musst dich zusammenreißen! Du darfst jetzt nicht durchdrehen!, hämmerte sie sich ein.
Nur war das leichter gedacht, als getan, denn der Anblick des Nichtgesichts wollte einfach nicht aus ihrer Erinnerung verschwinden. Das würde auch noch lange so bleiben.
Etwa eine Minute lang saugte sie den Anblick der Kirche in sich auf. Dann ging sie weiter und blieb auf der Hauptstraße, bis sie fast das Ortsende erreicht hatte und bereits in Richtung Westerland
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