1249 - Bibliothek des Grauens
mich.
Er sah mich nicht. Er schaute zwischen mir und Nic vorbei und hielt seinen Blick streng auf die Gestalt gerichtet, die zwischen Decke und Boden schwebte.
Der Junge wirkte auf mich nicht wie ein ängstliches Kind. Er sah sogar recht erwachsen aus, und es gab für ihn nur diese Gestalt als Blickziel.
»Robby, du musst…«
Er wusste selbst, was er musste. Um meine Worte kümmerte er sich nicht. Bevor ich zupacken konnte, lief er schon an mir vorbei und blieb erst stehen, als er den Tisch erreichte. Die fremde Gestalt schwebte jetzt fast über ihm. Das machte Robby nichts aus, das hatte er so gewollt. Er legte sogar den Kopf zurück, um das Wesen genauer betrachten zu können.
Er hob den Arm und streckte den Zeigefinger aus. »Ja, du bist der Mörder. Du hast meinen Grandy umgebracht. Ich habe dich gesehen. Du bist so schlecht und grausam…«
Ich konnte mir selbst nicht erklären, weshalb ich nicht eingriff und nur zwei Schritte nach vorn trat, um etwas näher bei dem Jungen zu sein. Wahrscheinlich sagte mir mein Gefühl, dass es besser war, wenn ich erst mal abwartete.
Robby Asher hatte keine Antwort bekommen. Das störte ihn nicht, denn er sprach weiter. »Ich bin mit meinem Großvater oft hier in diesem Raum gewesen. Ich habe hier mit ihm gesessen, und er hat mir so viel erzählt. Von der Welt, von den Büchern, in denen so viel steht. Er hat mir von den Guten berichtet und auch von den Bösen, so weiß ich jetzt Bescheid. Es steht auch viel in den Büchern. Ich kenne die Engel, die immer die Menschen beschützen, aber ich kenne auch die andere Seite. Das hat mir Grandy nie verschwiegen, denn er wusste, dass es nicht nur Gutes auf der Welt gibt. Er wusste sogar sehr viel, und das hat er mir auch gesagt. Und ich hörte, dass er das Böse hasste. Er wollte nicht, dass es in die Welt kommt, aber er konnte es nicht verhindern. Bei seinem letzten Besuch bin ich nicht mit hier hineingegangen. Es war gut so, denn Grandy hatte mir erzählt, dass sich das Böse gesammelt hat. Es hat dich schon gegeben, und er wollte dich bestimmt bekämpfen. Aber er ist nicht stark genug gewesen. Das Böse, das jemand zu uns gebracht hat, das hat ihn getötet durch dich!«
Was hier sinnbildlich gesprochen worden war, verstand Nic Trenton sehr genau. Er hatte das Böse mitgebracht, er hielt sich für schuldig, und er sackte plötzlich auf die Knie, stöhnte auf und schüttelte den Kopf.
Ich ging noch einen Schritt näher an Robby heran und sprach leise auf ihn ein.
»Ich glaube, es ist jetzt besser für dich, wenn du den Raum verlässt. Du hast ja alles gesagt…«
»Nein, ich bleibe!«
»Bitte, Robby. Diese Gestalt ist, wie du schon gesagt hast, das Böse. Sie wird keine Gnade kennen, auch bei dir nicht. Sie wird auch dich töten wollen.«
»Nein, John, nein, das geht nicht.«
»Glaube mir, das ist…«
Er drehte sich um. Er schaute mich an. Plötzlich rann es mir kalt den Rücken hinab. Ich sah einen Ausdruck in seinen Augen, der mich erschreckte. Nicht weil mich der Junge hasserfüllt anstarrte, da war etwas anderes, das mich so durcheinander brachte.
Es gab nichts mehr in seinen Augen zu lesen. Sie waren einfach so schrecklich leer.
Ich wollte etwas sagen, doch ich bekam das Kratzen im Hals nicht weg. Dann kam Robby mir zuvor.
»Er kann mich nicht töten, John, denn ich bin schon tot…«
***
Ja, er war schon tot!
Ich widersprach nicht. Er wusste selbst, was er sagte, und ich hatte auch seine Augen gesehen. Ich stand nur da und fühlte mich von einer zweiten und kalten Haut umfasst.
Da war wieder ein Moment in meinem Leben, an dem auch ich nicht mehr weiterwusste.
Robby aber lächelte. »Ich bin vor drei Stunden gestorben. Das war alles zu viel für mich. Ich hatte schon immer einen Herzfehler. Der Arzt wusste es nicht. Ich konnte die Medikamente nicht vertragen, aber ich bin noch einmal gekommen. Ich will das Böse auslöschen. Es darf nicht noch mehr Menschen vernichten. Vorhin habe ich mir meine Grabstätte ansehen wollen, doch jetzt muss ich noch einmal etwas tun, was auch im Sinn von Grandy ist…«
»Robby…« Ich würgte seinen Namen hervor. Zu mehr war ich nicht fähig. Da klemmte etwas in meiner Kehle fest, und ich merkte auch, wie Feuchtigkeit in meine Augen stieg.
»Weißt du nun Bescheid, John?«
Ich nickte nur.
Er lächelte mich an, streckte mir seine kleine Hand entgegen, die mich auch berührte, die ich aber nicht als Druck, sondern nur als einen Hauch spürte.
Wie ein Totenhauch…
Dann
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