1249 - Bibliothek des Grauens
jetzt?«, fragte ich.
Sir James räusperte sich. »Nicht gut, wie Sie sich bestimmt denken können. Er befindet sich unter ärztlicher Aufsicht. Robby hat einen Schock erlitten.«
»Ja, das wäre auch einem Erwachsenen passiert. War er denn in der Lage, eine Aussage zu machen?«
Unser Chef überlegte sich die Worte, nickte schließlich und sagte mit einer etwas unsicher klingenden Stimme, was auch nur jemand heraushörte, der ihn kannte: »Es gibt da etwas in der Aussage des Jungen, das mich dazu gebracht hat, Ihnen Bescheid zu geben. Er hat den Mörder gesehen. Oder will ihn gesehen haben.«
»Wo?«, fragte Suko.
»Am Tatort.«
Mein Freund und ich schauten uns an. Suko blickte ebenso ungläubig wie ich. Er deutete auch ein Kopfschütteln an und flüsterte zugleich: »Und dann lebt der Junge noch?«
»Ja, er lebt. Der Mörder hat ihm nichts getan.« Sir James legte die Hände zusammen. »Wobei wir an dem Punkt angelangt sind, der mich misstrauisch gemacht hat. Ich habe die Aussagen des Jungen einige Male gelesen und glaube nicht, dass sie aus einer Panik heraus geboren sind oder aus irgendwelchen Vorstellungen. So etwas kann man sich schlecht ausdenken, finde ich zumindest. Der Killer befand sich im Raum. Laut Robby war es kein normaler Mensch, sondern ein Wesen oder eine Gestalt, die fliegen kann, weil sie Flügel besaß.«
»Tatsächlich?«, brach es aus mir hervor.
»Ja. Während Robby neben der Leiche kniete, sah er eine große Gestalt unter der Decke, die in der Dunkelheit nicht genau zu erkennen war. Aber er hat deutlich die Flügel gesehen. Sie ist dann durch eine offene Tür in einen Nebenraum hineingeflogen und danach nicht wieder erschienen. Das hat er zu Protokoll gegeben. Er flog durch eine Tür, die beim Eintritt des Jungen verschlossen gewesen ist. Sie muss also zwischendurch geöffnet worden sein. Wahrscheinlich von einer dritten Person, die Robby nicht zu Gesicht bekommen hat.«
Wir mussten das Gehörte zunächst mal verarbeiten. Einfach war dies nicht. Ich stellte mir einen Zehnjährigen vor, der seinen toten Großvater findet, der zudem noch ermordet worden war. Was musste in diesem Kind alles vorgehen? Was malte er sich in seiner Fantasie aus?
Da konnte es durchaus sein, dass er etwas gesehen hatte, was es nicht gab.
»Was Sie jetzt denken, John, das habe ich auch gedacht«, erklärte Sir James. »Ich glaube Robby trotzdem und nehme nicht an, dass dieses Wesen ein Produkt seiner Einbildung gewesen ist. Meiner Ansicht nach existiert es wirklich.«
Ich war noch immer skeptisch. »Was könnte es denn sein?«
»Das weiß ich nicht.«
Suko blieb mit seiner nächsten Frage wieder bei der Realität.
»Was sagen die Kollegen von der Mordkommission dazu?«
»Man kann sagen, dass sie vor einem Rätsel stehen«, erwiderte Sir James.
»Warum?«
»Es ist so. Der Mord als Tatsache bleibt bestehen. Nur hat man nicht herausgefunden, wie die Tat begangen worden ist. Man hat keine Waffe gefunden, und man ist auch nicht in der Lage gewesen herauszufinden, mit welch einer Waffe Sir Ronald getötet worden ist. Es kann sein, dass der Killer seine Hände benutzt hat.«
»Hände?«, fragte ich.
»Krallen!«
»Das sagen Sie, weil Sie davon ausgehen, Sir, dass es die Gestalt gibt, die Ihnen der Junge beschrieben hat. Gewissermaßen ein fliegender Killer.«
»Das herauszufinden, möchte ich Sie bitten, John.«
»Aber nicht so offiziell, wie ich Sie kenne, Sir.«
»So ist es. Die Ashers werden natürlich eingeweiht werden, und sie werden Ihnen erlauben, in ihrem Haus zu wohnen, das abseits in ihrem Park steht. Es wird normalerweise nicht mehr als Wohnhaus benutzt, obwohl genügend Zimmer vorhanden sind. Aber es beherbergt noch die Bibliothek der Ashers, und die ist wirklich außergewöhnlich, wie ich mir habe sagen lassen. Bücherschätze aus Jahrhunderten befinden sich dort. Einmal in der Woche hat Sir Ronald sie betreten, um nach dem Rechten zu sehen. Er nahm sehr oft seinen Enkel mit, weil er ihm einfach das Gefühl für Bücher vermitteln wollte. Dass er umgebracht werden würde, damit hätte keiner rechnen können.«
»Und das in einem leeren Haus, Sir!«
Sir James schaute mich durch die dicken Gläser der Brille an.
»Das trifft nicht ganz zu, John.«
»Wie? Das Haus ist nicht leer?«
»Es wird hin und wieder vermietet.«
Die nächste Frage huschte mir wie von selbst über die Lippen. »Und gibt es zur Zeit auch einen Mieter?«
»Ja.«
»Und wer hat sich dort eingemietet? Doch nicht der
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