125 - Todesschreie aus dem Blutmoor
verstehen, daß er Martins Eigenbrötlerei nicht dulde und alles
daransetzen werde, dem entgegenzuwirken.
»Und wenn ich ihn töten muß!«
Diese furchtbare Drohung hing wie ein Damoklesschwert im Raum.
Petra Gessler schrie, fuhr ihren Vater an, ihre Stimme überschlug
sich, und sie gab zu verstehen, daß sie ebenfalls nicht länger in diesem
Irrenhaus bleiben und die Konsequenzen aus den furchtbaren Ereignissen ziehen
werde.
»Das kannst du nicht«, brüllte Anton Gessler. »Du kannst dich
nicht aus dem Netz befreien, in dem wir alle hängen. Nur eine einzige Person in
diesem Haus ist praktisch unangreifbar. Das ist deine Mutter. Sie ist keine
wirkliche Gessler, sondern trägt nur den Namen. Ihr aber habt mein Blut in
euren Adern und damit das Blut meines Vaters und meines Großvaters! Der Stimme
dieses Blutes könnt ihr euch nicht entziehen und werden sich auch eure Kinder
und Kindeskinder noch beugen müssen.«
»Niemals!«
Irgend etwas im Zimmer stürzte um. Entweder war es ein Tisch oder
ein Stuhl.
»Laß mich los, Vater!« schrie die Wirtstochter gellend.
»Brüll nicht so! Hier ist doch niemand, der dich hört .«
Ihr Vater benahm sich ihr gegenüber wie ein Fremder. Schlimmer als
das - wie ein Feind .
»Du sagst mir alles . hat Martin wirklich vor, etwas in der Höhle
zu unternehmen?« Anton Gesslers Stimme hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Er schien überhaupt nicht mehr zu wissen, was er tat, was er sagte.
»Er ist in die Höhle gefahren, ja. Hoffentlich war es nicht schon
zu spät, als er sich entschied, es zu tun. Er hat es richtig gemacht. Er setzt
alles daran, den Fluch der Moorleichen abzustreifen«, stammelte Petra Gessler.
»Er wird es nicht wagen ... ich sag dir’s, er wird es nicht
wagen!« Anton Gessler lachte auf eine schaurige Weise, daß es durch das ganze
Haus hallte. »Und du bleibst hier. Ich werde mich auf den Weg machen .«
Unten im Zimmer begann Petra zu schreien. Da zögerte Iwan
Kunaritschew nicht länger.
Er sprang auf die Fensterbank und kletterte an der groben Fassade
einen Stock tiefer. Von der Seite her bereitete es dem gelenkigen, kräftigen
Russen keine Schwierigkeiten, auf die Balkonbrüstung zu kommen und von da aus
auf den Balkon.
Die beiden Fenster waren geklappt, die Balkontür selbst
verschlossen. Iwan konnte aus der Dunkelheit einen Blick in das hell
erleuchtete Zimmer werfen.
Große, farbige Poster hingen an den Wänden, die Popkünstler und
phantastische Landschaften zeigten, zu den bunten, einfachen Möbeln gesellte
sich eine kleine Stereoanlage, ein Stoß mit Schallplatten und ein tragbares
Fernsehgerät.
Das Zimmer sah genauso aus, wie man das von einem jungen Mädchen
erwartete.
In Kunaritschews Blickfeld stand ein hellblau angestrichenes
Eisenbett, auf dem Petra Gessler lag.
Ihr Vater hatte ihr einen Knebel in den Mund geschoben, sie an
Händen und Füßen ans Bett gefesselt und lief - für sein Gewicht erstaunlich
schnell - gerade zur Tür, löschte das Licht und verschwand auf den Gang. Von
draußen drehte sich der Schlüssel im Schloß, dann waren polternde Schritte zu
hören. Anton Gessler ging über die Treppe nach unten.
Kunaritschews Rechte glitt in den offenen Fensterspalt, ertastete
den Griff und drückte ihn nach oben.
Petra Gessler sah den kräftigen Mann einsteigen, doch sie konnte
nicht schreien.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er leise. Gleichzeitig nahm er den
Knebel aus ihrem Mund, und löste blitzschnell die Fesseln.
Kunaritschew brauchte nicht viel zu erklären. Daß dieser Mann kein
Einbrecher war, erkannte Petra Gessler.
»Ich habe alles gehört. Das ist ja furchtbar ...«, murmelte X-
RAY-7.
»Lassen Sie ihn nicht wegfahren ... lassen Sie ihn um Himmels
willen nicht wegfahren!« Petra Gesslers Stimme war nur noch ein Hauch.
»Was wissen Sie, Petra? Ich habe einiges am Fenster gehört und
wurde gegen meinen Willen zum Lauscher. Sie und Ihr Vater haben laut genug
gestritten.«
»Ich hatte vergessen, daß Sie noch im Haus sind . Aber vielleicht
ist es ganz gut so. Vater fühlte sich so sicher. Er wird uns alle zugrunde
richten, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist schon so viel Unheil geschehen.«
»Welches Unheil?«
»Mord . ich habe heute abend gehört, daß zwei Menschen starben.
Ich hörte ihre Todesschreie aus dem Blutmoor .«
»Wie konnten Sie die Schreie hören, wenn Sie so weit entfernt
waren?«
»Das ist unsere Eigenheit ... die Eigenheit der Gessler- Familie.
Alle, die das Blut des unseligen Hermann
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