1252 - Spur in die Vergangenheit
Geist der Hoffnung zu spüren, der ihm aus der Tiefe entgegenwehte.
Auch das leise Sprechen brauchte er bei seinen Besuchen, und das war auch an diesem Abend so.
»Ich weiß nicht, wo du bist, Abbé, aber ich weiß, dass du vieles siehst. Und ich hoffe, dass du mich auch hören kannst. Ich möchte, mich nicht beschweren, aber ich wünschte mir doch, dich wieder an meiner Seite zu haben, denn ich vermisse dich sehr. Es gibt zu viele Fragen, aber keine Antworten. Es ist alles so neu für mich, und ich hoffe, dass ich die Kraft finde, alles zu überstehen. Ich schwöre dir, dass ich dieses Kloster niemals freiwillig dem Bösen überlassen werde. Dafür setze ich mein Leben ein…«
Er erhielt keine Antwort, aber er war davon überzeugt, dass der Abbé ihn gehört hatte. Godwin blieb am Grab stehen. Er legte den Kopf etwas zurück wie jemand, der in den Himmel schaut, um die Sterne zu beobachten. Er sah nur einige, die sich von dem schwarzen Hintergrund abhoben.
Irgendwo befand sich der Abbé. Oder dessen Geist. Nichts ging verloren in der Natur. Es gab nur die verschiedenen Zustände, und so war auch Bloch durch seinen Tod in einen anderen Zustand übergegangen.
Godwin de Salier hob die Schultern und seufzte auf. »Irgendwann«, so sprach er gegen das Grab, »werden wir uns wiedersehen. In einer anderen Welt, in der es keine Zeit mehr gibt. Dann sind wir in der Ewigkeit vereint.«
Er schwieg. Er faltete die Hände. Er wollte noch ein paar Minuten in stillem Gedenken vor dem Grab stehen bleiben, aber etwas lenkte ihn ab. Es war der Hauch, der plötzlich sein Gesicht berührte. Zuerst dachte er an den Wind, bis ihm einfiel, dass der sich anders anfühlte. Dieser Hauch war durch den Garten geweht, ohne dass es eine bestimmte Ursache dafür gab. Der Wind konnte es nicht sein, und aus der Tiefe des Grabes war er auch nicht geweht.
Godwin war irritiert. Er tat zunächst nichts. Er blieb in seiner Haltung stehen und bewegte nicht mal einen kleinen Finger. Er wollte wissen, ob er sich getäuscht hatte.
Nein, das hatte er nicht.
Der Hauch traf ihn ein zweites Mal. Zugleich hatte er das Empfinden, eine Botschaft zu empfangen, denn innerhalb dieses Hauchs bewegte sich etwas, das an seine Ohren gelangte.
Es war nicht mehr als ein geheimnisvolles Wispern oder Raunen, aber er wusste auch, dass er es sich nicht einbildete. Es war vorhanden, es erreichte ihn, weil es für ihn bestimmt war.
»Sie kommen - sie werden kommen - alle werden sie kommen. Hast du gehört?«
Ja, er hatte die Stimme vernommen. Aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, wer ihm diese Botschaft geschickt hatte. Er spürte nur die Gänsehaut auf seinem Rücken.
Wieder war der Hauch da. Diesmal strich er über seinen Nacken hinweg. Godwin sah dies als ein Zeichen an. Er drehte sich langsam um und wandte dem Grab den Rücken zu.
In der Dunkelheit sah er die Gestalt. Nein, den Schemen, denn mehr war es nicht.
Nicht stofflich, sondern das Gegenteil davon. Feinstofflich, ein Hauch nur, eine Gestalt wie mit dem Pinsel gezeichnet, aber nicht mit feinen Strichen, sondern recht grob, und trotzdem als Körper und Gesicht zu erkennen.
Godwin war auf der Stelle erstarrt. Er fühlte sich woanders hingestellt, denn die normale Umgebung war einfach aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Jetzt gab es nur ihn und diesen rätselhaften Schemen, der den Boden zwar berührte, aber nicht richtig auf ihm fest saß.
War das der Geist des Abbé?
Godwin konnte sich zu keiner Lösung durchringen, aber die Fragen drängten sich ihm auf. Er wollte Bescheid wissen, er wollte vor allen Dingen eine Antwort bekommen, und deshalb fragte er sofort nach, als er sich wieder gefangen hatte.
»Wer bist du?«
»Ein Mahner. Einer, der weiß, dass sie kommen. Sei auf der Hut und denke an die Frau.«
»Wen meinst du? Maria Magda…«
»Ja und nein. Sie wird nicht so sein, wie du sie dir vorgestellt hast. Aber sie lebt. Sie wird hierher gebracht werden, und du musst versuchen, ihr Beschützer zu sein. Denk daran, du musst sie beschützen. Es ist sehr wichtig für dich und deine Freunde…«
Mehr teilte ihm die Erscheinung nicht mit. Sie verschwand ebenso geheimnisvoll wie sie zuvor aufgetaucht war. Er sah noch die etwas heftige Bewegung, dann hatte sie sich aufgelöst und war eins geworden mit der Luft.
Godwin de Salier blieb stehen. Er drehte sich auch nicht zum Grab hin um. Aber die Frage, wer ihn da besucht hatte, die blieb schon, und er konnte einfach nicht glauben, dass es
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