1252 - Spur in die Vergangenheit
was du siehst, wenn, wenn du tief in dich hineinblickst. Siehst du dich selbst? Kannst du dich erkennen…?«
Auf diese Antwort war er gespannt, und er ließ Julie auch Zeit, sich die Worte zu überlegen. Dabei beobachtete er ihr Gesicht. Er wollte herausfinden, ob sie auch weiterhin ihm gehorchte oder sich der Bann allmählich auflöste.
Das schien nicht der Fall zu sein, denn auch der Ausdruck in den Augen war der Gleiche geblieben.
Julie sah aus, als wollte sie in sich hineinschauen, um ihre eigene Erinnerung zu beobachten. Alles war anders geworden. Die normale Existenz war nur äußerlich zu sehen. Jetzt hatte die erste Person bei ihr die Überhand gewonnen.
»Ich erkenne mich.«
Fast hätte er gelacht. Aber van Akkeren riss sich zusammen. Er merkte nur, wie er noch angespannter wurde. Er hätte tausend Fragen gehabt, aber ihn interessierte nur eine.
An sie tastete er sich allmählich heran. »Dein Leben ist so wunderbar verlaufen, nachdem du befreit worden bist, Maria Magdalena. Aber es war auch nicht endlos - oder?«
»Nein.«
»Auch auf dich hat der Tod gewartet…«
»Ja.«
Vor der nächsten Frage, die sehr entscheidend war, schaute er ihr noch einmal in die Augen. Er wollte sehen, ob die Trance auch weiterhin anhielt.
Ja, sie hielt an. Julie war weggetreten. Die Augen lebten nicht mehr, und wenn doch, dann waren sie in der Erinnerung versunken, die für ihn jetzt wichtiger als je war.
»Also gut«, flüsterte er, »du hast es nicht geschafft, dem Tod zu entgehen, denn du bist ja ein Mensch gewesen. Und jeder Mensch ist sterblich. Das ist ja ihr Fehler.« Er konnte sich das Lachen nicht verbeißen, wurde aber sehr schnell wieder ernst. »Ich möchte jetzt, dass du dich an deinen Tod erinnerst, meine Liebe. Ja, du sollst dich an dein Sterben erinnern und mir berichten, wie es gewesen ist, als der Tod dich zu fassen bekam. Du hast lange gelebt und bist bestimmt alt geworden. Aber wo und wie bist du gestorben? Kannst du dich daran noch erinnern? War es einfach, war es schlimm und schwer…?«
»Es war nicht so schwer, denn ich habe ja gewusst, dass es weitergehen wird. Ich habe mich zurückgezogen. Ich wollte allein sein. Niemand war bei mir.«
»Gut, gut. Und weiß du noch, wo das passiert ist?«
»Es war eine Höhle.«
»Ja!« flüsterte van Akkeren, »das hört sich schon gut an. Eine Höhle. Die Einsamkeit, in der man nicht gestört wird. Oder ist jemand bei dir gewesen?«
»Ich habe mich von der Welt zurückgezogen. Meine Aufgabe war erledigt, denn ich habe Spuren hinterlassen. Ich wusste, dass mich die Menschen nie vergessen würden.«
»Und die Höhle, kannst du dich erinnern? Wo ist sie gewesen? Gab es einen Ort in der Nähe?«
»Ich war weg von den Menschen. Weg von den Niederlassungen der Besatzer. Um mich herum war die Einsamkeit.«
Van Akkeren überlegte. Die Besatzer konnten die Römer gewesen sein. Er wusste auch, dass es in dieser Gegend zahlreiche Höhlen gab. Das hatte sich seit damals nicht verändert. Nur war es unmöglich für ihn, jede einzeln zu durchsuchen. Das hätte zu viel Zeit gekostet. Er wollte so rasch wie möglich ans Ziel gelangen.
»Erinnere dich genau, wie es gewesen ist, an jede Einzelheit. Wie sah die Höhle aus? Wo hat sie gelegen? Am Meer oder weiter entfernt im Land?«
»Sie war im Land.«
»Gut. Aber es gab keinen Ort?«
»Nein…«
»An was kannst du dich erinnern?«
»Die Höhle war nicht so dunkel. Aber es ging tiefer in die Erde. Da war nicht nur ein Schacht. Höhlen waren überall. Gänge, in denen man sich verstecken konnte…«
»Und du hast dir einen bestimmten ausgesucht!«
»Ja.«
»Wo?«
»Irgendwo!«
Die Antwort konnte van Akkeren nicht gefallen. Er war wütend, er war sauer. Er keuchte, und er sah seine Felle allmählich davonschwimmen. Er hatte sich alles so gut vorgestellt, aber es war zu spät.
Es ging einfach nichts.
Vincent van Akkeren schaffte es, sich zusammenzureißen. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren und musste so gelassen wie möglich bleiben. Nur keinen Ärger machen. Sich nur nicht ablenken lassen. In ihm tobte eine Glut, die das normale Denken überschwemmen wollte, aber das konnte er sich auf keinen Fall leisten.
Die Höhle war ein Anhaltspunkt. Mehr aber nicht. Van Akkeren musste schon nachdenken und sich öffnen. Er musste auch andere Wege gehen, und er musste bestimmte Dinge in eine bestimmte Reihenfolge bringen. Er war ein Mensch, der sich vorbereitet und sich mit dieser Gegend beschäftigt
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