1253 - Angst vor dem eigenen Ich
der Berührung keine Reaktion erlebt, ich strich mit der Rechten über ihre Wange hinweg und musste an mich halten, um die Hand nicht zuckend zurückzuziehen.
Die Haut war wirklich kalt geworden. Hinzu kam die Blässe, und ich dachte jetzt an eine Blutleere, die sie bei diesem Stress erwischt hatte. Wenn jetzt jemand ihren Kreislauf gemessen hätte, wäre er ebenso blass geworden wie es Julie war.
Ich hatte die Befürchtung, dass es ihr nicht gut ging und sie irgendwann zusammenbrach. Ich tauchte meinen Blick tief in ihren ein und versuchte, darin etwas zu erkennen.
Es war nicht möglich. Julie war fest und ganz in ihrer eigenen Welt gefangen.
Ich schaute auf ihre Hände. Sie lagen flach auf den Oberschenkeln, wie bei einem braven Mädchen.
Ich hob die rechte Hand an. Es wurde mir kein Widerstand entgegengesetzt. Ebenso gut hätte ich auch die Hand einer Puppe oder einer Marionette anheben können.
Bei der zweiten Hand, diesmal war es die Rechte, erlebte ich das Gleiche. Aber ich legte sie jetzt in einer anderen Haltung auf den Oberschenkel zurück, und zwar rücklings, sodass die Handfläche nach oben zeigte.
Sie ließ es mit sich geschehen und drehte die Hand auch nicht herum. Der Wille musste aus ihrem Körper entflohen sein, sie war nur noch eine Hülle.
Suko und Godwin standen schräg hinter mir und schauten über meine Schultern hinweg. Sie gaben keinen Kommentar ab, nur ihre Atemzüge waren zu hören.
»Du solltest es endlich nehmen, John«, drängte Suko.
»Ja, ich weiß.«
Plötzlich wog das Kreuz doppelt so viel. Den Eindruck hatte ich zumindest. Ich befürchtete immer noch, etwas falsch zu machen, aber es gab jetzt keine andere Möglichkeit mehr.
Für einen Moment schwebte das Kreuz zusammen mit meinen Fingern noch über ihrer Hand. Dann ließ ich es langsam nach unten sinken, und einen Moment später lag es auf ihrer Handfläche.
Die Spannung hatte den Siedepunkt erreicht. Auch ich fühlte mich wie dicht vor dem Platzen. Schlimme Befürchtungen, dass die Hand abfallen könnte, traten nicht ein, sie blieb normal, sie schwärzte nicht ein, aber die Starre löste sich auf.
Es begann mit einem Zucken des Kopfes. Für einen Moment erhielten die Augen wieder einen klaren Blick, der sich direkt auf mein Gesicht richtete. »Julie«, sagte ich.
Langsam bewegten sich die Lippen. »Ich bin weg. Ich bin weg. Ich bin weg…«
»Wo bist du?«
Wir erhielten keine Antwort.
»Bitte - wo?«
»Es ist so dunkel. Ich kann kaum etwas sehen, aber ich gehe weiter, immer weiter…«
»Wohin gehst du?«
»Man erwartet mich.«
»Ja, das ist gut. Aber wo erwartet man dich? Wo ist es denn so dunkel, Julie?«
»Im Stollen«, erwiderte sie kaum hörbar. »Ich bin im Stollen…«
Jetzt hatten wir die Antwort. Sicherlich waren wir überrascht, aber keiner von uns sprach es aus. Jeder hing seinen Gedanken nach, und jeder von uns wusste, welcher Stollen gemeint war. Es war der, der unter der Kirche von Rennes-le-Château herführte und in dem auch der tiefe Schacht mit den Gebeinen der Maria Magdalena lag. Davon zumindest gingen wir aus.
»Sie selbst ist nicht drin«, sagte Suko leise. »Es muss ihre Zweitgestalt sein. Sie hat den Doppelkörper in den Stollen geschickt. Er kann sich also von ihr wegbewegen und braucht nicht mehr in Sichtweite zu bleiben.«
Das stimmte, und das warf genau unsere Vermutungen über den Haufen. Der Doppelkörper verhielt sich nicht so, wie in dem wissenschaftlichen Bericht beschrieben. Uns war jetzt klar, dass wir es bei Julie mit einem anderen Phänomen zu tun hatten.
Jeder von uns wartete gespannt darauf, dass Julie weitere Erklärungen hinzufügte. Leider blieben ihre Lippen geschlossen. Von allein sprach sie nicht. Sie musste gefragt und aus der Reserve gelockt werden. Daran hielt ich mich auch weiterhin und setzte darauf, dass der Unterschied zwischen ihrem Erstund Zweitkörper für eine Weile bestehen blieb.
»Kannst du erkennen, was mit dir passiert, Julie?«
»Es ist alles dunkel.«
»Gut. Aber du stehst nicht - oder?«
»Nein, ich gehe.«
»Und wohin?«
»In das Dunkel hinein. Immer weiter in das Dunkel«, murmelte sie.
Ihr Verhalten erinnerte mich wieder daran, dass ich bereits in Gent versucht hatte, sie zu hypnotisieren oder unter die Kontrolle des Kreuzes zu bekommen, damit es Informationen aus der Vergangenheit hervorlockte. Es war mir nicht gelungen, und jetzt setzte ich darauf, dass sie von allein weitersprach.
»Es ist kein Licht da. Aber ich weiß, wohin ich
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