1253 - Angst vor dem eigenen Ich
erlebt und schloss das auch hier nicht aus.
Das traf diesmal nicht zu. Die Augen blieben so wie sie waren. In ihnen bewegte sich nichts und auch nichts um sie herum. Es war und blieb Stein.
Die Gesichter glänzten, doch das lag am Wasser, denn hier sammelte sich ebenfalls die Feuchtigkeit.
Ich fing an, nachzudenken. Ich rechnete weit zurück, ungefähr 2000 Jahre und fragte mich dann, ob die Figuren damals schon geschaffen worden waren, um Maria Magdalenas Grab damit zu schmücken.
Nein, daran glaubte ich nicht. Zur damaligen Zeit hatten die Künstler anders gearbeitet, das kannte ich von zahlreichen Abbildungen her, die ich in Büchern gesehen hatte. Hier lagen die Dinge ganz anders. Die Figuren musste ein Künstler viel später erschaffen haben. Möglicherweise dann, als das Grab erneut entdeckt worden war.
Hinter mir raschelte es. Ich drehte den Kopf und stellte fest, dass auch der Templer die kleinere Höhle betreten hatte. Godwin de Salier hielt seine Lampe ebenfalls fest. Auch er drehte sich und leuchtete die Wände ab, wobei er die Gesichter natürlich nicht übersehen konnte. Mit einer Äußerung hielt er sich zunächst zurück, und auch ich stellte ihm keine Frage.
Schließlich ließ er die Lampe sinken, sodass der Kreis einen hellen Fleck auf den Boden malte.
»Es ist unglaublich, John«, flüsterte er.
»Was empfindest du so?«
»Die Höhle. Die Gesichter, in den Wänden, die mir vorkommen wie Wachtposten.«
»Stimmt. Ich denke auch, dass es Aufpasser sind. Meiner Ansicht passen sie eher in das Reich der Dämonen oder zu einem Herrscher wie Baphomet.«
»Ich weiß nicht, John…«
»Sagen dir die Gesichter etwas?«
»Nein«, gab er zu. »Sie sagen mir nichts, gar nichts. Aber man kann über sie nachdenken. Jemand hat sie bewusst in den Stein gehauen. Ich gehe davon aus, dass sie etwas bewachen sollen. Aber was sollen sie bewachen, John? Das große Geheimnis? Die Gebeine?«
»Kennst du eine andere Möglichkeit?«
Godwin hob die Schultern. »Wenn sie tatsächlich etwas bewachen, worauf ja alles hindeutet, wo finden wir das dann? Wenn du sie anschaust und ihre Blicke verlängerst, dann treffen sie sich an einem einzigen Punkt auf dem Boden.«
»Genau!«
»Aber dort ist nichts!«
Da hatte er Recht. Wir konnten uns noch so anstrengen und hinschauen, es gab nichts zu sehen als nur das Gestein. Und trotzdem konzentrierten sich unsere Blicke eben auf diesen einen Punkt.
An einen Zufall glaubte ich nicht. Freund Godwin dachte bereits weiter und murmelte vor sich hin:
»Wer kann diese Figuren nur geschaffen haben? Wenn ich sie mir so ansehe, dann entspricht das nicht der Kunst, die zweitausend Jahre zurückliegt.« Er drehte sich, schob den Helm mehr in den Nacken und sah mich an.
»Stimmt. Das Gleiche habe ich auch gedacht.«
»Und weiter?«
»Sie sind später in das Gestein geschlagen worden. Zu einer Zeit, als jemand die Höhle hier fand und möglicherweise das Grab der Maria Magdalena erneut anlegte. Dieser Unbekannte hat ihre Gebeine gefunden und genau gewusst, was er da entdeckt hatte. Er hat sie dann vom Fundort aus hier in Sicherheit gebracht. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, Godwin, aber es ist eine Möglichkeit.«
»Ja, das ist es.« Er nickte langsam vor sich hin. Dabei blies er die Luft durch die Nase aus. »Allmählich formt sich bei mir auch ein Bild. Ich kann völlig falsch liegen, aber ich glaube nicht daran, wenn wir davon ausgehen, was wir uns zusammengereimt haben.«
»Nur ein Bild?«
»Nein John, ein Name.«
»Ich höre.«
»Ich glaube fest daran, dass diese Gesichter im Felsen von keinem anderen geschaffen worden sind, als von dem Mann, der hier Geschichte geschrieben hat.«
Ich wusste, worauf er hinauswollte. »Du sprichst von dem geheimnisvollen Abbé Saunière.«
»Von keinem anderen, John!«
Wir standen uns gegenüber, sagten nichts und hingen unseren Gedanken nach. Auch ich hatte mich kundig gemacht und wusste, dass mit der Entdeckung des Abbé der ganze Rummel angefangen hatte. Er hatte sich von einer größeren Stadt hierher in dieses Kaff versetzen lassen. Er hatte die Kirche von Rennes-le-Château nach seinen Vorstellungen umgebaut. Da stand zum Beispiel das Weihwasserbecken am Eingang der Kirche auf dem Kopf und dem Rücken des Teufels, etwas, das es sonst nicht gab. Von der offiziellen Kirche war der Abbé als Ketzer gebrandmarkt worden, aber es gab Menschen, die ihn unterstützten und im Hintergrund blieben. Viele glaubten auch, dass hier in der
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