1261 - Blut aus dem Jenseits
zu einem Menschen werden. Bei ihm kehrte durch das Kreuz die Normalität zurück.
Für mich wurde die Gestalt allmählich zu einem Menschen oder zumindest zu einem Mittelding zwischen Mensch und dieser Figur.
Ich erlebte auch, dass die Glätte der Haut verschwand. Sie änderte ihre Farbe sehr langsam, aber kontinuierlich. Dabei erschienen die ersten Falten und Unebenheiten. Die Lippen erhielten ein leichtes Rot, und genau das geschah auch mit der Haut.
Verwandelte sich hier jemand in einen Menschen?
Ja, es kam für mich keine andere Lösung in Frage. Hier hatte jemand das Zwitterdasein aufgeben, um wieder ein Mensch zu werden, der er vielleicht mal gewesen war.
So ganz klappte das allerdings nicht, denn das Wesen blieb geschlechtsneutral. Nur die Haut hatte sich verändert und auch die Haare waren ein wenig dunkler geworden. Man konnte ihre Farbe jetzt als blond einstufen.
Das alles war für mich nicht normal gewesen. Ich musste meine Überraschung erst überwinden. Sie hatte mit der Verwandlung der Gestalt und auch mit meinem Kreuz zu tun, an dem ich wieder eine völlig neue Seite entdeckt hatte. Nur passierte so etwas nicht bei jedem. Nur in Ausnahmefällen, und so ging ich davon aus, dass ich hier einen Ausnahmefall sah und das Kreuz mit dieser Gestalt eine Symbiose eingegangen war.
Sie konnte nicht schlecht sein. Das war auch der seltsame Zwilling nicht gewesen, dessen Körper in der Kirche so dunkel geworden war. Mit ihm musste zuvor etwas anderes passiert sein. Beweise hatte ich nicht, aber er konnte einem Feind in die Hände gefallen sein; einem dieser Vampire, denn die Abdrücke an seinem Hals waren nicht zu übersehen gewesen.
Nach dem letzten Schub der Verwandlung war einige Zeit verstrichen, und es hatte sich nichts mehr getan. Ich war überzeugt davon, dass die Metamorphose beendet war. Das Kreuz nahm ich nicht wieder an mich. Es war bei dem Fremden besser aufgehoben.
Jetzt versuchte ich es wieder. Abermals lächelte ich. Ein kurzes Räuspern. Dann die Frage:
»Kannst du mich verstehen?«
»Ja!«
***
Eine knappe Antwort nur, aber sie warf mich fast um. Das Blut stieg mir in den Kopf. Mein Atem stockte, und ich merkte, dass meine Knie etwas weicher wurden.
Er hatte mich verstanden. Er hatte mich begriffen. Er konnte reden. Aber nicht nur das, er hatte sogar in meiner Sprache geantwortet!
Ich atmete tief durch, wusste nicht, ob ich mich zu sehr freuen sollte, aber ich wiederholte die Frage.
»Kannst du mich wirklich verstehen?«
»Ja.«
»Du redest in meiner Sprache?«
»Das hast du doch gehört.«
»Okay, okay.« Ich nickte. »Keine Zweifel mehr. Aber wie ist das nur möglich?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt die Veränderung bei mir. Ich kann euch Menschen verstehen.«
Euch Menschen, hatte er gesagt. Demnach gehörte er nicht zu den Menschen. In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Wenn er nicht zu den Menschen gehörte, wozu gehörte er dann? War er ein Außerirdischer?
Ich schob diese Gedanken auch nicht zu weit weg, denn so etwas hatte ich schon erlebt, und es lag nicht mal zu weit zurück.
Aber das konnte es auch nicht sein. Nein, das wollte ich nicht akzeptieren. Es gab einen Grund für diese Veränderung, und daran trug einzig und allein das Kreuz die Schuld.
Wäre diese Kreatur ein Außerirdischer gewesen, hätte sie sich so nicht verhalten. Sie musste jemand sein, die auf das Kreuz reagierte. Ein Dämon kam ebenfalls nicht in Betracht, sondern eine Gestalt, die auf der Gegenseite stand.
»Gut«, sagte ich. »Es ist also das Kreuz, das für diese Veränderung gesorgt hat?«
»Ja.«
»Du magst es?«
»Es ist ein Strom der Kraft…«
Da hatte er Recht. Ich hatte ihn jetzt mehrmals sprechen hören und konnte mich auch an die Stimme gewöhnen. Die Antwort war mir zwar verständlich gegeben worden, doch die Stimme hatte ihren Klang nicht verändert. Sie hörte sich nach wie vor so überhoch und auch leicht schrill an.
»Magst du das Kreuz?«
»Es tut mir gut. Es bildet die Brücke zwischen dir und mir.«
»Das mag wohl stimmen«, erwiderte ich. »Du hast es wirklich erfasst. Aber ich bin ich, das weiß ich. Nur würde ich gern wissen, wer du bist und ob du auch einen Namen hast.«
»Ich bin kein Mensch.«
»Stimmt.«
»Ich habe einen Namen. Ich nenne mich Jamiel.«
In meiner Kehle saß plötzlich ein Kloß. Nicht aus der Furcht geboren. Es ging mehr um die Überraschung.
Jamiel! Das war ein Name, der mich auf eine bestimmte Spur brachte. So ähnlich hießen Engel, die
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