1274 - Der Wolf und das Mädchen
sie ebenfalls.
Das Aroma oder den Duft eines bestimmten Parfüms.
Wieso das?
Eine Antwort fand sie nicht, aber ihr fiel noch ein, dass sie den Duft nicht zum ersten Mal roch. Sie kam nur nicht darauf, wer ihn sich aufgelegt hatte.
Endlich fand Gloria die Sprache wieder. Sie sprach nicht den Wolf an, sondern ihre Enkelin. »Bitte, Caroline, geh. Ich… ich… mache das schon. Versuche zu fliehen und…«
»Nein, Grandma, ich bleibe.«
»Er will dich aber haben!«
»Ja, das weiß ich. Nur…«
Da schnappte der Wolf zu!
Caroline schrie auf, und ihre Großmutter war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen, denn der zielsicher angesetzte Biss galt ihr und erreichte sie auch.
Die beiden Hälften der Schnauze umfassten ihre rechte Schulter und bissen sich darin nur leicht fest.
Gloria konnte nichts mehr tun. Sie konnte auch nicht atmen. Sie war vor Angst starr. Nie hätte sie daran gedacht, dass es im Leben überhaupt ein so großes Entsetzen geben könnte, aber es war vorhanden, und das erlebte sie in diesem Augenblick.
Gloria fühlte sich nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Figur, die aus eigener Kraft nicht handeln konnte. Sie spürte die Zähne an ihrer Schulter, die jetzt härter zubissen und ihren Körper zugleich nach vorn zerrten.
Da wusste die Frau, was das Tier mit ihr vorhatte. Sie sollte nicht mehr im Bett bleiben, damit der weiße Wolf eine bessere Chance erhielt, an Caro heranzukommen.
Sich wehren oder nicht?
Sie wehrte sich nicht. Sie folgte mit dem Oberkörper dem Druck der Schnauze, und wenig später erreichte sie die Bettkante, über die sie hinwegrutschte und nach vorn kippte.
Bäuchlings landete die Frau auf dem Boden. Der Aufprall wurde durch den Teppich etwas gedämpft. Trotzdem schlug sie mit dem Mund so hart auf, dass sie Blut an den Lippen spürte. Für einen Moment war sie auch völlig durcheinander, sodass es etwas dauerte, bis sie es schaffte, sich auf die Seite zu wälzen. Sie nutzte den kleinen Schwung noch aus und geriet in eine sitzende Haltung.
Jetzt hockte sie vor dem Bett.
Caroline saß ebenfalls dort und schaute den weißen Wolf direkt an, den nichts mehr auf dem Boden hielt. Der Sprungansatz war kaum zu erkennen. Er stieß sich ab, und ein Satz reichte aus, um das Bett zu erreichen.
»Nein…!«
Es war mehr ein krächzender Laut, den Gloria ausstieß. Was sie sah, das hatte sie unter allen Umständen verhindern wollen, denn jetzt war die Bestie bei ihrer Enkelin. Sie nahm fast den gesamten Umfang des Bettes ein, und wirkte in dieser Haltung noch größer als zuvor auf dem Boden.
Caroline bewegte sich nicht. Sie schrie nicht. Sie schaute das Tier nur an, und sie bohrte dabei ihren Blick in die hellen kalten Augen des Wolfes.
Es war kaum zu fassen. Zumindest nicht für Gloria, die alles mit ansehen musste. Sie rechnete damit, dass der Wolf seine Zähne in den Hals der Enkelin schlagen würde, doch genau das tat er nicht.
Er stand einfach nur vor ihr und wartete.
Caroline entspannte sich wieder. Sie schaffte es sogar zu lächeln. »He, wer bist du?«
Beinahe sah es aus, als wollte der Wolf eine Antwort geben. Zumindest deutete er so etwas wie ein Nicken an, und aus seinem Rachen wehte dem Kind wieder das leise Knurren entgegen.
Auch die Großmutter wagte nicht, sich zu bewegen. Sie spürte zwar den Schmerz an ihrer linken Hand, aber sie achtete nicht auf das Blut, das aus der kleinen Wunde floss, denn sie hatte unabsichtlich ihren Handballen in ein Scherbenstück gedrückt.
Plötzlich schnappte der Wolf zu!
Es ging so schnell, dass weder Caroline noch ihre Großmutter es richtig mitbekamen. Mit den beiden Kieferhälften erwischte er den rechten Arm des Mädchens, und die Großmutter rechnete mit einem harten Biss, der den Arm sogar durchtrennte.
Nein, es spritzte kein Blut. Das Tier hatte zielsicher zugebissen, bewegte den Kopf, als wollte es nicken und zerrte im nächsten Augenblick am Arm der Kleinen.
Die Geste war klar. Der Wolf wollte Caroline vom Bett holen. Er hatte es ihr durch diese Bewegung gezeigt, und das Mädchen merkte ebenfalls, was los war.
Es reagierte genau richtig und stemmte sich nicht gegen den Druck. Und so gelang es dem Tier, Caroline klar zu machen, was es wollte. Es biss nicht zu fest zu, es zerrte das Mädchen, das sich auch nicht wehrte, über das Bett.
Gloria Crane verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte damit gerechnet, dass Blut fließen würde. Sie dachte daran, in welchem Zustand die Opfer gefunden worden waren, aber
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