1274 - Der Wolf und das Mädchen
oder mich irgendwie anders bemerkbar zu machen, denn bevor ich die Tür erreicht hatte, wurde sie geöffnet.
Eine Frau mit dichten grauen Haaren stand vor mir. Sie trug ein langes beiges Sommerkleid, und ihre linke Hand wurde teilweise von einem hellen Verband bedeckt.
Obwohl ich sie freundlich anlächelte, verschwand das Misstrauen nicht aus ihrem Gesicht.
»Sie wünschen?«
»Zunächst mal möchte ich Sie fragen, ob Sie Mrs. Gloria Crane sind, Wendys Mutter.«
Plötzlich erschrak sie. Für einen Moment ballte sie die Hände zu Fäusten. »Sie kennen meine Tochter?«
»Ja, Mrs. Crane, ich komme aus London.«
»Und?«
»Können wir das nicht im Haus besprechen?«
Sie zögerte, schaute mich noch mal vom Kopf bis zu den Füßen an und nickte, bevor sie den Weg frei gab.
Ich freute mich über das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, aber ich machte mir auch gleichzeitig Gedanken über sie. Man sagt, dass der erste Eindruck immer der Entscheidende ist. Wenn das tatsächlich zutraf, dann wirkte die Frau auf mich nervös und zugleich ängstlich. Ihre Augen hatten auch leicht rötlich ausgesehen. Wie bei einem Menschen, der geweint hat, und meine lockere Stimmung war verflogen. Das Haus kam mir plötzlich düster und abweisend vor. Zudem war es im Innern sehr still. Ich hörte weder ein Kinderlachen noch eine helle Kinderstimme.
Gloria Crane bat mich in das Wohnzimmer, in dem ältere, aber gemütlich aussehende Möbel standen. Sie bot mir ein Mineralwasser an, das ich dankend annahm, und setzte sich mir gegenüber hin.
»Sie kennen also meine Tochter?«
»Ja.« Ich setzte das Glas ab, aus dem ich einen Schluck getrunken hatte. »Mein Name ist John Sinclair.«
»Den habe ich noch nie gehört, wenn ich mit meiner Tochter gesprochen habe.«
»Ich bin auch nicht beruflich mit ihr verbandelt, sondern arbeite für Scotland Yard.«
»Was? Für die Polizei?«
»Ja.«
Sie sagte erst mal nichts, aber ich sah, dass sie blass wurde. Zugleich nahm auch ihre Nervosität zu, was ich am Zucken ihrer Wangen sah. »Äh - wieso kommt meine Tochter dazu, Sie herzuschicken, Mr. Sinclair?«
»Weil Sie sich Gedanken um Caroline macht.«
Jetzt schrak die Frau richtig zusammen. Sie schloss die Augen und griff nach ihrem Glas. Ihre Hand zitterte leicht, und mir war klar, dass ich einen wunden Punkt erwischt hatte.
»Hat sie denn einen Grund?«, fragte sie.
Ich blieb möglichst gelassen. »Ja, wenn man so will, Mrs. Crane. Sie hat einen Grund gehabt. Sie macht sich Sorgen um ihr Kind, denn sie weiß sehr genau, was hier in den letzten Wochen vorgefallen ist. Es sind Menschen gestorben, und niemand weiß, wer sie umgebracht hat. Man spricht davon, dass die Opfer von einem Tier angefallen wurden. Unsere Experten haben herausgefunden, dass es sich um Wolfsbisse gehandelt haben muss, und ihre Tochter vermutet dahinter mehr, als nur einen Wolf, der irgendwo ausgebrochen ist. Deshalb hat sie mich gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen.«
Gloria Crane hatte mir zugehört. Aber ich hatte auch gesehen, wie sehr sie sich bei meinen Worten verändert hatte. Sie war fahrig geworden, sie konnte mich nicht anschauen, bis sie den Kopf endgültig zur Seite drehte und zu weinen begann.
Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste zunächst nicht, wie ich mich verhalten sollte, ließ sie weinen und wartete, bis sie ihre Nase geputzt und sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte.
Danach entschuldigte sie sich mit erstickt klingender Stimme, und ich schüttelte den Kopf. »Das brauchen Sie nicht, Mrs. Crane, aber es scheint mir so zu sein, dass ich bei Ihnen einen wunden Punkt erwischt habe.«
»Ja, das haben Sie, Mr. Sinclair.«
»Bitte, erzählen Sie mir davon.«
Gloria Crane zögerte noch. Sie musste sich sammeln, das sah ich ihr an. Sie schluckte einige Male, schaute ins Leere, und sie war erst nach einer Weile in der Lage, eine Antwort zu geben.
»Caroline ist verschwunden.«
»Bitte?«
»Ja, sie ist entführt worden!«
»Von wem?«, fragte ich spontan.
Diesmal erhielt ich keine Antwort. Gloria Crane saß vor mir und presste die Lippen zusammen. Sie schaute ins Leere. Ich sah, dass sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. »Es war kein Mensch, und es ist in der vergangenen Nacht geschehen. Zuvor habe ich das Heulen gehört und fürchtete mich. Deshalb bin ich in das Zimmer meiner Enkelin gelaufen, denn auch sie hatte Angst. Man hat ja die anderen Toten gefunden, und alles wies darauf hin, dass sich in der
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