1275 - Der Totenkopf-Sammler
habe ich.«
»Jetzt bin ich gespannt.«
»Ich sage mal sowohl als auch.«
»Das ist zu wenig, Harry.«
»Wie hat der Zeuge den Mann beschrieben?«
Harry lächelte und schlug den Hefter auf, den er neben sich auf einen freien Stuhl gelegt hatte. Er blätterte einige Seiten durch, bis er die Zeichnung gefunden hatte. Sie war von einem Spezialisten angefertigt worden. Harry drehte die Zeichnung so herum, dass Dagmar sie betrachten konnte.
Sie sah eine dunkle Gestalt, die einen Mantel trug und einen Hut aufhatte.
»Das kann jeder sein. Auch du, wenn du dich verkleidest.«
»Stimmt. Aber blättere mal weiter.«
Der Zeichner hatte auf der nächsten Seite versucht, das Gesicht genauer herauszuholen. Es war ihm gut gelungen, zumindest vom handwerklichen her, aber viel erkennen konnte der Betrachter auch nicht, denn der Hut warf einen zu großen Schatten, und so war die Hälfte des Gesichts verdeckt.
Die untere zeigte ein kantiges Kinn und einen breiten Mund mit dünnen Lippen. Auffällig waren die breiten Nasenlöcher, ansonsten konnte man auch diese Zeichnung vergessen.
»Die wird uns wohl kaum weiterbringen«, sagte Dagmar. »Ich jedenfalls kenne keinen, der so aussieht.«
»Und ich auch nicht.«
Sie schob Harry die Mappe wieder rüber. »Dann bleibt uns zunächst mal der Besuch im Schauhaus.«
»Du sagst es.«
»Dann komm.«
Bezahlt hatten sie schon. Dagmar stand als Erste auf. Sie legte sich die Jacke nur lässig über die Schultern und verließ das Lokal. Draußen lächelte sie etwas wehmütig, als sie die Gäste sah, die in der Sonne saßen oder unter den bunten Schirmen Schatten gesucht hatten. Auch sie wäre gern noch sitzen geblieben, aber die Pflicht rief mal wieder, und die war nicht immer menschenfreundlich.
Wer bei diesem Wetter ein Leichenschauhaus besuchte, anstatt in den Biergarten zu gehen, der konnte nicht normal sein.
Doch als normal hatte sich Dagmar Hansen nie angesehen, und Harry dachte ebenso.
Trotz der Sonne überfiel sie wieder ein kühler Schauer. »Ich habe nachgedacht, Harry.«
»Und?«
»Kann es sein, dass dieser Mensch ein Totensauger ist, der versucht, sich das zu holen, was für ihn wichtig ist. Zum Beispiel das Gehirn eines Wissenschaftlers?«
»Mal den Teufel nur nicht an die Wand«, gab er flüsternd zurück…
***
Dagmar Hansen und Harry Stahl fanden einen Parkplatz in der Nähe. Den Rest der Strecke konnten sie zu Fuß gehen und den Sonnenschein noch mal genießen. Die Frau mit den roten Haaren blieb kurz vor dem Eingang stehen und schaute ihren Freund an. »Sag mal Harry, hast du eigentlich schon darüber nachgedacht, John Sinclair Bescheid zu geben?«
»Nein, nicht.«
»Warum nicht?«
Er blieb im Schatten einer Hauswand stehen. »Warum sollte ich das tun? Wir haben hier unseren Job. John hat in London zu tun. Ich will nicht unnötig die Pferde scheu machen.«
»Aber wir sollten es im Hinterkopf behalten, falls wir nicht weiterkommen.«
»Das will ich nicht hoffen.«
Dagmar hob die Schultern. »Ich weiß zwar nicht viel, aber das Wenige deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass wir mit diesem Fall noch jede Menge Ärger bekommen.«
»Möglich.«
Sie gingen weiter. Harry hatte sie telefonisch angemeldet, und so stand schon jemand bereit, der sie in den Raum hineinführte, in dem das Opfer lag.
Der Mann stellte sich als Dr. Weber vor. Er ging leicht krumm, als trüge er alle Sorgen der Welt auf seinem Buckel. Wahrscheinlich hatte er sich nur zu oft und zu lange über irgendwelche Leichen gebückt, so war es dann zu dieser Haltung gekommen. Dr. Weber hatte buschiges graublondes Haar, dichte Augenbrauen, und seine Stimme hörte sich an, als käme sie aus einer Gruft.
»Wollen Sie den Fall aufklären?«
»Wir bemühen uns«, sagte Dagmar.
Dr. Weber wiegte den Kopf, und sein Blick war dabei in weite Ferne gerichtet. »Ich will ja nicht meckern«, sagte er, »aber ich habe auch schon meine Jahre hier in diesem Job hinter mich gebracht. Doch so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich kenne andere Dinge, die irgendwelche Irren mit Leichen angestellt haben, aber dass ihnen das Gehirn entnommen wurde, ist mir noch nicht untergekommen. Da kann ich nur den Kopf schütteln.«
»Wir auch«, sagte Harry Stahl.
»Was will er damit? In Spiritus einlegen oder…?«
»Hat er es denn herausgetrennt?«
Dr. Weber schaute Harry scharf an. »Mit genau dieser Frage haben Sie mir einen Gefallen getan. Der Mann hat zwar mit chirurgischen Geräten gearbeitet, aber
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