1275 - Der Totenkopf-Sammler
verdrängt hatte.
Harry Stahl zog die Tür auf.
Sie war schwer, aber so gut geölt, dass sie sich lautlos bewegte. Auf dem glänzenden Metall sah er die Abdrücke der Finger, die sein Griff hinterlassen hatte.
Dagmar flüsterte Harry ins Ohr: »Siehst du was?«
»Ja. Der Chef sitzt hinter seinem Schreibtisch. Ansonsten sehe ich keinen.«
»Gut. Dann habe ich mich wohl geirrt.«
»Das scheint mir auch so zu sein.«
Harry war wieder lockerer geworden. Er steckte die Waffe trotzdem nicht weg, zog aber die Tür so weit wie möglich auf und betrat das Büro des Dr. Weber.
Der Mann blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen. Wenn etwas auf der Platte gelegen hätte - irgendeine Unterlage, mit der er sich beschäftigt hätte -, dann wären die beiden nicht so verwundert gewesen, dass der Arzt nichts zu ihnen sagte.
So aber wurden sie misstrauisch. Bei genauerem Hinschauen entdeckten sie den starren Ausdruck in seinem Gesicht, zu dem auch die leblosen Augen passten.
Sie hatten sich nicht abgesprochen, aber sie starteten zur gleichen Zeit und erreichten den Arzt von zwei verschiedenen Seiten des Schreibtisches.
Auch jetzt sagte er nichts, weil er einfach nichts mehr sagen konnte. Jemand hatte ihm wuchtig und auch zielsicher ein Skalpell in den Rücken gestoßen…
***
Glauben Sie an Zufälle?
Ja, bestimmt. Fast jeder glaubt daran. Auch ich mache da keine Ausnahme, obwohl ich mir manchmal nicht so sicher bin und statt des Wortes Zufall lieber den Begriff »Bestimmung« einsetze. Alles, was im Leben passiert, ist irgendwie vorbestimmt, als wäre es in einem großen Buch aufgeschrieben worden, dessen Seiten nur von den Händen des Allmächtigen umgeschlagen werden.
Mir war es manchmal so ergangen, sodass ich mir immer wieder diese Frage stellte und auch an diesem Tag mal wieder nicht darum herumkam.
Aber ich möchte der Reihe nach beginnen, denn angefangen hatte es mit meiner Rückfahrt von Woodstone, einem kleinen Ort in der Provinz Kent, nach London.
Ich war der elfjährigen Caroline Crane noch einen Gefallen schuld. Ich hatte ihr versprochen, sie wieder zu ihrer Großmutter zu bringen. Das war ich ihr schuldig, denn auf ihren schmalen Schultern lastete ein schweres und tragisches Schicksal.
Das Kind hatte seine Mutter verloren, und zwar durch mich oder besser gesagt durch mein Kreuz.
Ich hatte das tun müssen, denn Wendy Crane hatte unter einem schrecklichen Fluch gelitten. Bei Vollmond war sie zu einem Werwolf geworden, und sie hatte diesem Fluch auch Tribut zollen müssen, denn es war zu mehreren Todesfällen gekommen.
Sie selbst hatte mich auf die Spur dieses weißen Werwolfs gebracht. Dass aber Wendy Crane selbst mein Gegner war, das hatte ich nicht voraussehen können. So hatte sie praktisch darauf hingearbeitet, von mir ausgeschaltet zu werden.
Ihrer Tochter Caroline war nichts passiert. Zumindest hatte sie keinen körperlichen Schaden erlitten, dafür aber einen seelischen, und den musste ihre Großmutter versuchen zu kitten, was alles andere als einfach war, aber es gab sonst keine andere Möglichkeit.
Caros Großmutter hatte mir versprochen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um der Kleinen ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Ihr kam dabei zugute, dass Caroline praktisch bei der Großmutter auf dem Land aufgewachsen war und die Mutter in London nur hin und wieder besucht hatte.
Ich fühlte mich nicht perfekt, als ich mich auf den Rückweg machte, aber ich war einigermaßen beruhigt, weil es für mich einfach die beste Lösung gewesen war.
Jetzt wartete wieder London auf mich, und wie ich den Weg meines Schicksals einschätzte, sicherlich auch wieder ein neuer Fall. Meine Feinde machten keine Sommerpause. Irgendwo brodelte es immer, wo mein Freund Suko und ich dann gefragt waren, um den Deckel auf den großen Topf zu drücken.
Es war keine weite Strecke von Woodstone bis hin zur Metropole an der Themse, und ich ließ mir auch Zeit. Nur nicht jagen, nur nicht so schnell fahren. Sich Muse nehmen, auch das schöne Wetter zu genießen und natürlich die entsprechende Sommerlandschaft, die vom Licht der Sonne verwöhnt wurde. Wenn ich zum Himmel hoch schaute, dann sah ich dieses seidige Blau, auf dem sich nur wenige Wolken abmalten, die wie Klumpen aus Zuckerwatte aussahen.
Es gab viel Landschaft. Es herrschte viel Ruhe. Es war einfach wunderbar, sich treiben zu lassen.
Obwohl ich recht langsam fuhr, erreichte ich London ziemlich schnell und war darüber nicht glücklich, denn ich
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