1288 - Das unheimliche Mädchen
zurück in die Normalität fand.
Sie sah wieder alles so, wie sie es kannte. Die Zelle, den Abdruck des Fensters, schattenhaft die Gegenstände und natürlich auch Gina, die noch immer bei ihr auf dem Bett hockte und auf die verbrannten Hände starrte, die sie anklagend erhoben hatte.
Gabriela bewegte sich. Dabei zog sie ein Bein an. Das Knie traf Gina Pescaro. Sie erhielt einen Stoß und rutschte auf den Bettrand zu.
Die Hände konnte sie nicht mehr gebrauchen. Deshalb fand sie auch keinen Halt und stürzte zu Boden. Wimmernd blieb sie dort liegen, während sich Gabriela aufrichtete. Sie schaute sich um, ohne viel sehen zu können. Die Hände brannten nicht mehr, und es war auch kein Nachglühen zu sehen.
Das Jammern hatte sich verändert. Schluchzende Geräusche verließen den Mund der Frau. Gina hielt die Arme von sich gestreckt, während sie selbst auf dem Rücken lag. Wie Zeugen der Anklage waren die Hände der Tür entgegengestreckt, und als hätte diese es erhört, waren hinter ihr Geräusche zu hören.
Dann fegte der Riegel zur Seite! Es folgte ein Schlag gegen die Tür, und nur eine Sekunde später wurde sie aufgerissen.
Zwei Wärterinnen standen auf der Schwelle. Im Gang brannte Licht im Raum war es finster. Sie standen genau auf dieser Grenze und wirkten wie zwei Figuren aus einem SF-Film.
»Licht!«, schrie Gabriela.
Sie hätte es nicht zu rufen brauchen, denn eine Hand zuckte nach vorn und der Strahl einer Taschenlampe wischte für einen Moment wie ein Irrlicht durch die Zelle, bis er ein Ziel gefunden hatte.
Es waren Ginas Hände.
Wieder ein Schrei. Diesmal nicht von Gina. Den hatte eine der Wärterinnen ausgestoßen. Was sie in diesem kalten Licht zu sehen bekam, das war ihr noch nie im Leben vor die Augen gekommen. Das konnte sie nicht begreifen. Sie fürchtete sich davor.
Auch die zweite Beamtin hatte das Schreckliche gesehen. Sie schrie nicht. Sie war nur für einen Moment entsetzt, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand aus der Zelle.
Sekunden später war es hell. Die Szene war wirklich, aber beide Frauen konnten es nicht glauben.
Gina Pescaro kniete auf dem Zellenboden und hielt die Hände hoch, die keine mehr waren. Die Finger hatten sich verändert und glichen verkohlten schwarzen Stümpfen, die wie flehend der offenen Tür zugewandt waren, als könnten sie dort Hilfe bekommen.
Aber das war unmöglich. Niemand kam.
Das Entsetzen war zu groß. Bis sich Gabriela mit leiser Stimme meldete und sagte: »Holt einen Arzt! Gina muss einen Arzt haben!«
Sie konnten nicht.
Gabriela sprang vom Bett. »Verdammt, holt doch einen Arzt! Seht ihr nicht, was passiert ist?«
Mit rauer Stimme fragte eine der Frauen, die beide schon älter waren: »Was ist denn hier vorgefallen?«
»Sie hat sich ihre Hände verletzt!«
»Wie…?«
»Ja, verletzt!«
»Hier riecht es nach Rauch, nach Feuer. Was ist denn hier passiert, verdammt?«
Ob Gina sich wünschte, bewusstlos zu werden, niemand wusste es. Sie wurde es auch nicht, denn sie blieb sitzen und brüllte: »Verbrannt! Meine Hände sind verbrannt worden! Ich kann… ich kann sie nicht mehr gebrauchen, verflucht! Seht doch!«
Erst jetzt erwachten die beiden Beamtinnen aus ihrer Erstarrung, auch wenn ihnen das Geschehen wie ein böser Traum vorkam. Aber sie mussten etwas tun, und sie schlossen nicht mal die Tür, als sie davon liefen.
Gina Pescaro kniete noch immer. Aber sie starrte nicht mehr auf ihre Hände, sondern drehte langsam den Kopf, um Gabriela Monti anzuschauen.
Die saß auf dem Bett und schaute ins Leere…
***
Lucio Corbucci trug einen dunkelblauen Blazer und dazu eine graue Hose. Sein Hemd war blütenweiß und die Krawatte himmelblau.
Der Anwalt war etwa in meinem Alter. Nur war er eben eleganter angezogen, und sein Haar lag wie schwarzer Lack auf dem Kopf. Allerdings war er kleiner als ich und beim Reichen der Hand musste er hochschauen, um mir in die Augen zu sehen.
Als ich zum zweiten Mal in seine Augen schaute, war mir klar, dass er etwas Besonderes zu berichten hatte.
Genau das hatte auch Father Ignatius bemerkt, der sich als dritte Person in der Bibliothek befand. »Ist etwas passiert, Signor Corbucci? Sie machen auf mich einen etwas bedrückten Eindruck.«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte er mit leiser Stimme und schaute auf die Buchrücken. »Es hat im Gefängnis einen Vorfall gegeben, der mich an der Unschuld meiner Mandantin zweifeln lässt.«
»Was ist passiert?«
»Natürlich ein Feuer«,
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