1288 - Das unheimliche Mädchen
Blick auch nicht senkte, worüber ich mich schon ein wenig wunderte, denn zugleich las ich in ihren Augen ein ungewöhnliches Interesse. Sie musterte mich, sie schien etwas zu ahnen, doch ihre Gedanken gab sie mit keinem Wort preis.
Man hatte ihr erzählt, wer ich war. Als ich dicht vor ihr stehen blieb und trotzdem noch erklären wollte, da nahm sie mir das Wort aus dem Mund. »Sie sind Signor Sinclair.«
»Si.«
Etwas zögernd hob sie die Hand und streckte sie mir entgegen. Dabei blieb ich unter Beobachtung.
Ich griff zu - und wäre beinahe zurückgeschreckt, denn ich hatte das Gefühl, als wären zwei gegenteilige elektrische Pole aufeinander getroffen. Das Knistern war nicht zu hören, aber zu spüren. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Funken geflogen wären.
Es gelang mir, einen Blick in ihre Augen zu erhaschen, die für einen Moment starr waren, wobei sich der Blick schnell wieder normalisierte und sie sogar lächelte.
»Sind Sie ein Priester?«
Die Frage überraschte mich. »Nein, das bin ich nicht.«
»Aber Sie sollen auf mich Acht geben - oder?«
»Das schon. Vor allen Dingen möchte ich dich an einen anderen Ort bringen.«
»Ja«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich will hier auch raus. Ich bin hier falsch.«
»Das denke ich auch. Aber du brauchst nicht so förmlich zu sein. Du kannst John sagen.«
»Danke, ich bin Gabriela.«
Sie stand auf. Die Reisetasche nahm ich an mich. Den Weg nach draußen kannten wir.
Auf dem Weg zum Wagen fragte ich mich, ob Gabriela tatsächlich eine Mörderin war. Betrachtete man ihr Äußeres, konnte man dies nur verneinen. Aber danach durfte ich nicht gehen. Es gibt wirklich Mörder und Mörderinnen, die einen so harmlosen Eindruck machen, dass niemand auf die Idee käme, sie dafür zu halten.
Einen ersten Hinweis darauf, dass mit ihr etwas nicht stimmte, hatte ich bekommen. Dieses plötzliche Zucken war nicht normal gewesen. Da war zwischen uns so etwas wie ein Kontakt hergestellt worden, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn positiv oder negativ einschätzen sollte.
Lucio Corbucci hatte uns begleitet. Als wir vor dem Wagen standen, atmete er tief durch. Es war ihm anzusehen, dass er sich freute, dieses Problem los zu sein. Er sprach davon, dass er uns alles Glück der Welt wünschte und umarmte seinen Schützling.
Gabriela fing an zu weinen. Sie bedankte sich für alles, was Corbucci für sie getan hatte. Da hatte sie Recht. Ohne sein Denken säße sie noch immer hinter Gefängnismauern.
»Wenn irgendwas ist, Gabriela, bin ich immer für dich da. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Danke.«
Er bekam noch zwei Küsse auf die Wangen, dann drehte sich Gabriela herum und schaute mich an.
»Jetzt können wir fahren.«
»Das denke ich auch.«
Bevor sie einstieg, warf sie noch einen Blick auf das Gemäuer. In ihren Augen funkelte es. »Ich hasse es!«, flüsterte sie. »Ich hasse es wirklich. Es ist wie der schleichende Tod, dem keiner entgehen kann…«
Mehr sagte sie nicht. So schnell wie möglich setzte sie sich auf den Beifahrersitz, warf dem Haus keinen Blick mehr zu und schaute nur stur geradeaus.
Ich war wirklich gespannt, was die nahe Zukunft bringen würde…
***
Um das Kloster zu erreichen, in dem Gabriela Monti die nächste Zeit verbringen sollte, mussten wir ungefähr zwei Stunden fahren, wenn wir uns Zeit ließen. Es gab keine Autobahn, der Weg führte in Richtung Westen, wobei wir in der Ebene blieben, im Norden aber in der recht klaren Luft die Südalpen sahen. Ich dachte an das Tessin, ich dachte an das Aostatal, das gar nicht mal so weit entfernt lag, aber unser Ziel war ein anderes. Das Kloster lag südlich von Biella, und ein Ort gehörte dazu nicht, wie ich mir hatte sagen lassen. Dafür gab es die ersten Berge, die Täler, die Hügel und auch den Wein, der allmählich gelesen werden musste.
»Kennst du den Weg, John?«
»Ja, ich habe ihn mir auf der Karte zuvor angeschaut.«
»Aha.«
Ich wartete auf die nächste Frage, aber die stellte sie nicht, obwohl sie nachdachte, das sah ich ihrem Gesicht an, denn hin und wieder zeigte, die Stirn ein Faltenmuster.
»Was hast du für Probleme, Gabriela?«
»Ich denke über das Ziel nach.«
»Und?«
»Kennst du es?«
»Leider nein«, sagte ich.
»Ich kenne es auch nicht.« Sie wirkte betrübt, suchte nach Worten und sagte dann: »Ich bin nicht begeistert davon, John. Ein Kloster kann auch ein Gefängnis sein, verstehst du?«
»Nein, so denke ich nicht. Die alten Zeiten sind
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