1292 - Die Blutbrücke
der Brücke zu erreichen. Hier stoppte er.
Langsam stieg er vom Rad und lehnte es nicht gegen das Geländer, sondern an einen Baumstamm.
Noch vor einigen Stunden wäre es für ihn kein Problem gewesen, die Brücke zu überqueren, das sah jetzt anders aus.
Er stand da und schaute über sie hinweg.
Sie war nicht unbedingt lang. Unter ihr bewegte sich der Oosbach-Kanal als eine schimmerige träge Masse. Wenn die Sonne schien, sah das Wasser viel heller aus, jetzt aber kroch es zwischen den beiden Uferbefestigungen entlang, an denen Büsche und Bäume wuchsen, die auch über die Brücke hinwegragten und mit ihren ausladenden Kronen fast ein Dach bildeten. Zu dieser Jahreszeit hatte es allerdings Lücken bekommen, weil das meiste Laub schon weggefegt worden war. Einige Blumen waren noch als Farbtupfer zwischen dem Grün zu sehen, ansonsten herrschte eine triste Herbstatmosphäre.
Zwischen Bäumen malten sich die Umrisse von Häusern ab. Da standen die alten Villen, als wollten sie von längst vergangenen Zeiten berichten.
Heiko schaute über das Geländer an seiner Seite hinweg. Er sah nicht nur Wasser, sondern auch das dichte Gestrüpp, das am Ufer wuchs, als wollte es Menschen davon abhalten, ins Wasser zu steigen.
Hin und wieder passierte ihn ein Fahrzeug oder kam ihm entgegen. Seit die neue B 3 gebaut worden war, hatte der Verkehr über die Blutbrücke stark nachgelassen.
Heiko Fischer schluckte einige Male. Er hatte sich schon längst vorgenommen, über die Brücke zu gehen, doch irgendwie traute er sich nicht. Er blieb stehen und schaute über die Straße und den Gehsteig hinweg bis zum anderen Ende. Dort lief die Straße weiter, und alles sah so verdammt normal aus.
Da führte die Straße in Richtung Brühl. Er kannte sie, weil er dort schon beruflich zu tun gehabt hatte.
Das erschien ihm zu diesem Zeitpunkt alles so weit weg zu sein.
Warum bin ich so nervös?, fragte er sich. Nur weil Angela angerufen hat?
Es gab keine andere Lösung. Sie hatte ihn beunruhigt. Nur gab es nichts zu sehen, was diesem Gefühl eine Berechtigung gegeben hätte.
Er konnte es drehen und wenden wie er wollte. Die Normalität war für ihn nicht mehr normal. An seinen Beinen hingen Bleigewichte, die ihn daran hinderten, die Brücke zu betreten.
Es war Unsinn. Der reine Quatsch. Er musste sich nur einen Ruck geben, dann war es geschafft.
Und er gab ihn sich. Der erste Schritt auf die Brücke kostete ihn schon eine gewisse Überwindung. Er hielt sich sogar am Geländer fest. Seine Hand streifte über den alten Handlauf hinweg, und er spürte jede Unebenheit an seiner Haut. Er blieb auf dem Gehsteig, schaute aber nicht über das Geländer hinweg nach unten, sondern blickte weiterhin nach vorn, als wäre er voll und ganz auf ein bestimmtes Ziel konzentriert.
Das gab es auch. Das Ende der Brücke. Dort wollte er umkehren und den Weg zurückgehen.
Aber warum schlug sein Herz schneller? Er wusste es nicht. Es war nicht logisch. Hier lauerte nicht die Dunkelheit, in der sich irgendwelche Monster verbargen, die plötzlich hervorkamen, um ihn anzugreifen. Es war alles normal. Ein trüber Herbsttag, wie vorausgesagt. Gegen Abend sollte auch der Nebel kommen, und gerade am Wasser würde er sich besonders verdichten.
Bis dahin wollte er nicht denken. Das war nicht seine Sache. Außerdem musste er nach Hause gehen, um auf seinen Besuch zu warten.
Als er die Mitte der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen. Da waren seine Beine so schwer geworden.
Er stellte zudem fest, dass er am gesamten Körper schwitzte, obwohl ihn nach wie vor der kühle Wind umwehte. Die rechte Hand lag noch immer auf dem Geländer, aber jetzt umklammerte sie es so fest wie einen Rettungsanker.
Irgendetwas war anders geworden. Etwas stimmte nicht. Es gab eine Gefahr, auch wenn er sie nicht sah. Diese verdammte Brücke strömte etwas ab, das ihm nicht behagte. Er warf einen Blick zur Seite und sah, dass er direkt neben der Schrift stand.
BLUTBRÜCKE!
Er sah jeden einzelnen Buchstaben. Er wollte den Blick abwenden, doch es war nicht zu schaffen. Die Schrift hielt ihn fest wie eine Klammer, und im nächsten Augenblick passierte etwas Unheimliches.
Die Buchstaben begannen zu zittern. Sie bewegten sich dabei von einer Seite zur anderen. Man hatte sie weiß angestrichen und zwischen die Geometrie des Gitters gesetzt.
Weiß…?
Nein, das war vorbei. Heiko Fischer sah sie nicht mehr in dieser Farbe. Sie bewegten sich nicht nur weiter, sondern wechselten auch ihre
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