1292 - Die Blutbrücke
Harry Stahl immer wieder denken, als er in Richtung Baden-Baden fuhr.
Die Staus hatten sich tatsächlich in Grenzen gehalten. Nur um Karlsruhe herum hatte es eine kurze Strecke mit Stopp and Go gegeben.
Er hielt kurz hinter der Abfahrt am Randstreifen an, um mit Dagmar zu telefonieren.
»Wo bist du denn jetzt?«
»Fast in der Stadt.«
»Kein Stau?«
»So gut wie keiner.«
»Dann gib auf dich Acht, Harry. Ich will dich gesund zurückhaben, weil ich dich verdammt gerne habe.«
»Danke, ich dich auch.« Versonnen lächelnd steckte Harry das Handy weg und fuhr weiter in die herbstlich gefärbte Gegend hinein.
Weiterhin gab es die grünen Hügel jenseits der Straße, die aussahen wie Buckel. Eine leicht dunstige Luft sorgte für ein herbstliches Flair, sodass die höheren Hänge des Schwarzwaldes im Dunst verschwunden waren. Harry kannte diese Wetterbedingungen. Bei Einbruch der Dunkelheit würde aus dem Dunst an verschiedenen Stellen Nebel werden und die Autofahrer zwingen, behutsamer mit dem Gaspedal umzugehen.
An zahlreichen Stellen der Straße hatte der Wind das Laub wie hingekämmt. Es lag in den Rinnsteinen, den Kurven und den Abfahrten in die kleineren Vororte hinein.
Die Tussy erklärte Harry den Weg. Er nannte die Kunststimme der Frau so, die den Fahrer mit Hilfe des Satellitensystems ans Ziel wies. Die Brücke hatte Harry nicht eingegeben, sondern die Straße, an der sie lag. Er wurde um Baden-Baden herumgeleitet und brauchte auch nicht den langen Tunnel in der Innenstadt zu benutzen.
Je näher er dem Ziel kam, desto nervöser fühlte er sich. Es gab keinen ersichtlichen Grund für dieses Gefühl. Es war einfach vorhanden. Es mochte auch daran liegen, dass immer dann, wenn John Sinclair ihn alarmiert hatte, etwas Entscheidendes eingetreten war. Das waren nie Fälle gewesen, über die man einfach hinwegging. Es hatte immer etwas dahinter gesteckt, und die Gefahren hatten sich stets verdichtet.
Es war nicht die Zeit der großen Bälle und Kuren hier in Baden-Baden. Harry kam der Ort ziemlich leer vor. Trüber Herbst. Am nächsten Tag war Allerheiligen. Davor gab es noch die Nacht auf Halloween, eine letzte große Party, bevor für viele Menschen die Zeit der Trauer und Depression begann.
So dachte Stahl nicht. Für ihn war das alles eine Ausrede. Da machten sich die Leute selbst was vor.
Trübe Tage gehörten nun eben zum Herbst. Das war schon immer so gewesen und würde auch so bleiben.
Harry erreichte die Sinzheimer Straße. Noch war die Brücke nicht zu sehen. Rechts und links ragten ältere Wohnhäuser hoch, die immer wieder von Grünflächen umgeben waren. Die Bäume standen dort, als wollten sie einen Schutz geben.
Natürlich konnte er über die Brücke hinwegfahren, am anderen Ende wenden und zurückfahren. Das hatte Harry nicht vor. Bevor er sein Ziel erreichte, fand er eine gute Parklücke am Straßenrand und stellte den Omega dort ab.
Blätter fielen auf das Fahrzeug nieder. Sie blieben auf dem Dach und der Motorhaube kleben oder segelten auf den feuchten Boden. Auch der Rinnstein war mit Laub gefüllt, und die Blätter schwammen auf dem Kanal, der unter der Brücke floss und dessen Ufer teilweise dicht mit Strauchwerk bewachsen war.
Es war alles okay. Es gab keine Probleme, und nichts wies darauf hin, dass es in der nächsten Zeit welche geben könnte. Dennoch wurde Harry von einer inneren Unruhe getrieben, für die er auch jetzt keine Erklärung fand. Es war eine Ahnung, bald etwas zu erleben oder zu entdecken, aber was er sah, war ein an einem Baumstamm lehnendes Fahrrad.
Von dieser Stelle aus musste er noch drei, vier Schritte gehen, um seinen Fuß auf die Blutbrücke zu setzen.
Das tat er auch - und blieb sofort danach stehen!
Da stimmte etwas nicht, das hatte ihm der Blick nach vorn genau gezeigt. Es interessierte ihn nicht, dass der Verkehr nur sehr spärlich floss, für ihn war wichtig, was er auf seiner Fußgängerseite sah.
Vor ihm lag etwas am Boden, und er wusste sofort, dass es sich dabei um einen Menschen handelte.
Eine Frau war stehen geblieben. Sie schaute nur hin und umfasste dabei den Lenker ihres Fahrrads.
Sie sagte auch etwas, doch der Mann auf dem Boden rührte sich nicht. Wenig später stieg die Frau wieder in den Sattel, ohne sich um den am Boden Liegenden zu kümmern.
Harry wollte sie stoppen und ansprechen. Er ließ es bleiben, weil er wusste, dass es wichtiger war, sich um den Mann zu kümmern, der sich jetzt bewegte. Womöglich hatte die Ansprache der
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