1292 - Die Blutbrücke
Farbe.
»Blutbrücke«, flüsterte er und spürte dabei die Gänsehaut auf seinem Rücken. Das Wort war ihm nicht grundlos über die Lippen gedrungen, denn jetzt passte es zu dem, was er sah, zugleich aber nicht für möglich hielt.
Die Buchstaben weichten auf. Sie verliefen ineinander, waren jedoch noch zu erkennen. Nur veränderte sich ihre Farbe, und was nun geschah, das hatte er noch nie erlebt. Das war auch nicht zu erklären.
Rot - blutrot. Wie leicht wallender und zitternder Lebenssaft. Sie bewegten sich. Sie liefen ineinander, sie drückten sich wieder zurück, sodass er den Namen wieder normal lesen konnte.
Nur die Buchstaben blieben in dieser Horrorfarbe, und an ihren Rändern fielen einige Tropfen ab, die zu Boden sanken, dort jedoch keine Lache bildeten, weil sie zuvor verdampften.
Heiko stand noch auf den Beinen, doch er hatte das Gefühl, fortzuschweben. Er umklammerte das Geländer.
Ihn passierten einige Fahrzeuge, die er kaum wahrnahm. Sie huschten wie Schatten aus einer anderen Welt an ihm vorbei. Er hatte die Augen weit geöffnet und schaute über das. Geländer hinweg. Er hätte die normale Welt sehen müssen, die Bäume, die Büsche, dahinter die Fassaden der Häuser.
Genau das sah er nicht.
Es tauchten andere Bilder vor seinen Augen auf. Schreckliche Szenen, eingehüllt in Nebel. Schaurige Gestalten mit blutigen Gesichtern und halb zerrissenen Körpern. Es war für ihn unmöglich, einen normalen Gedanken zu fassen, weil er nur diese fürchterlichen Horror-Szenen sah, die aus einem der schlimmen Splatter-Movies entsprungen war.
Eine furchtbare Angst hielt ihn umfangen. Er sah die schrecklichen Gestalten dicht vor sich. Er sah auch die Krallenhände mit blutigen Fingern, die nach ihm fassten.
Heiko Fischer schrie!
Nein, er schrie nicht. Es waren die Schreie, die in seinem Innern aufbrandeten. Er spürte, wie etwas über sein Gesicht kratzte, wie ihn die Schmerzen erreichten, die er genau verfolgte, weil sie von oben nach unten liefen und er plötzlich das Gefühl hatte, von der Erde abzuheben und irgendwo hinzufliegen.
Tatsächlich aber gaben seine Knie nach. Es half ihm auch nichts, dass er sich am Geländer festhielt.
Seine Beine gaben nach, und noch in der gleichen Sekunde brach er zusammen…
***
Harry Stahl lebte nicht allein, sondern zusammen mit seiner Partnerin Dagmar Hansen. Niemand sah der Frau mit den roten Haaren ihre Vergangenheit an. Sie war eine Psychonautin, ein Mensch, der ein drittes Auge besaß, und sie hatte in der fernen Vergangenheit schon einmal gelebt und war mit diesem Leben auch konfrontiert worden, als es um dämonische Zwillinge gegangen war, die sie hatten töten wollen, weil sie damals ihre Mutter gewesen war. [2]
Davon war nichts zu sehen, als Harry mit ihr sprach und ihren erstaunten Blick auf sich gerichtet sah.
»Du willst tatsächlich nach Baden Baden fahren?«
»Klar.«
Sie runzelte die Stirn und schaute sich im Zimmer um. »Lohnt sich das denn?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber John hörte sich an, als wäre das kein Spaß. Außerdem solltest du an den Begriff Blutbrücke denken. Das lässt auf etwas schließen.«
Dagmar nickte. »Sicherlich.« Dann breitete sie die Arme aus. »Vor uns liegen drei freie Tage. Ich wollte heute eigentlich damit beginnen, die Wohnung mal richtig durchzuchecken. Wer weiß, was in der nächsten Woche wieder anfällt.«
»Alles kein Problem, ich fahre allein.«
Sie schaute Harry an, sah sein Lächeln und bekam mit, wie er durch sein Haar strich, das mittlerweile einige graue Strähnen bekommen hatte. »Wenn es ja nicht John Sinclair gewesen wäre, der angerufen hat, würde ich sagen, lass es sein. Aber so kannst du dich mal umschauen, meine ich.«
»Es ist auch keine Entfernung.«
Dagmar musste lachen. »Normalerweise nicht, aber bei den Staus musst du mit allem rechnen. Um Karlsruhe herum ist meistens Zirkus. Das weiß ich aus den Verkehrsberichten.«
»Alles klar. Deshalb will ich auch sofort losfahren. John wird auch kommen. Er sitzt jetzt wahrscheinlich im Flieger. Wir werden zwischendurch Kontakt miteinander aufnehmen. Es kann auch alles ganz harmlos sein, sage ich mal…«
Dagmar Hansen dachte praktisch. »Nimm trotzdem eine Zahnbürste und frische Wäsche mit. Wie ich dich und John Sinclair kenne, kann es unter Umständen länger dauern.«
»Stimmt.«
»Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Aber ich bleibe hier, das musst du mir gestatten.«
»Ist schon okay.«
An dieses Gespräch musste
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