13 kleine Friesenmorde
Namen gemacht hatte. Er war, wie auch der Kapitän, Witwer und Pensionär und lebte in Norden in der
Westernstraße. Sie hatten sich seit Jahren aus den Augen verloren und wussten sich viel zu erzählen. Die alten Herren schwelgten in Erinnerungen, genossen
den Tag, krönten ihn mit einem Café-Besuch in der Nähe von St. Ludgeri.
Der Anlass seines Besuches bei Hillrich Buck galt in erster Linie der Taschenuhr, die Folkmar Betten eine Stange Geld gekostet hatte. Er hegte keine Zweifel an dem Wert seiner Errungenschaft, bereute nicht den schnellen Kauf. Schlaflos machten ihn hingegen seine Gedanken, die nachts seine Träume in gespenstischer Weise zu beeinflussen schienen, seitdem sich das wertvolle Sammelobjekt in seinem Besitz befand.
Kapitän Folkmar Betten sah sich an Bord eines sinkenden Schiffes, dem haushohe Wellen entgegenstürzten. Aus dem brodelnden Meer erhob sich eine Hand, die ihm die Taschenuhr entgegenhielt. Er nahm sie entgegen, wurde von Bord geschleudert und landete in einem Rettungsboot, dessen Ruder ein junger Mann bediente, der unentwegt gegen den Sturm anschrie.
Solche Träume variierten nur um Nuancen. Schweißgebadet fuhr er danach aus dem Schlaf.
Betten bat seinen Vetter Hillrich, eine naturgetreue zeichnerische Darstellung der Taschenuhr aus mehreren Perspektiven anzufertigen, was dem Künstler wenig Mühe bereitete und ihm hervorragend gelang. Auch erklärte sich Hillrich auf Wunsch des Vetters bereit, die Taschenuhr vorerst an sich zu nehmen und aufzubewahren, weil Folkmar davon ausging, dass er damit den Albträumen entfliehen könnte.
Der Kapitän stieg nach einem angenehmen, abwechslungsreichen Tag am frühen Abend vor dem »Weinhaus« in den Eilwagen, den schnelle Pferde zum Anleger der Fähre nach Norddeich zur Mole beförderten.
Noch am Abend verfasste Kapitän Betten einen ausführlichen Brief, legte die Zeichnungen hinzu, adressierte ihn an die Witwe Katharina Luttmann, Neuser Weg 14, Arle, die Mutter des verunglückten Pitt Luttmann, von dem er wusste, dass sein Vater nicht mehr lebte.
Er bat »fürsorglichst und äußerst ergeben« um ihre Nachricht und Stellungnahme.
Bereits an den folgenden Tagen registrierte der Kapitän überrascht das Ausbleiben der quälenden Albträume. Das Sodbrennen stellte sich ein. Er fühlte sich von einer Pflicht erleichtert, die ihm niemand aufgebürdet hatte.
Angeregt durch die Unruhe, die der Erwerb der Taschenuhr bewirkt hatte, begann der Kapitän mit dem Ordnen der vielen Fotos, klebte sie in ein Album, versah sie mit hinweisenden Texten. Dabei fand er zurück in Jahre, die ihm lebenswerter erschienen, denen er nachtrauerte angesichts der modernen Errungenschaften,mit denen er sich schwer tat. Moderne Dampfschiffe verdrängten die Segelschiffe. Niemand hatte mehr Zeit. Die Zeiger der Uhr schienen sich schneller zu drehen als früher.
Mitte Juni, an einem verregneten Freitagnachmittag, erreichte Kapitän Folkmar Betten ein Brief der Witwe Katharina Luttmann aus Arle. Er nahm ihn aus der Hand des Postboten entgegen, reichte ihm 10 Groschen mit dem Hinweis auf das scheußliche Wetter. Er bestellte einen Tee mit Sahne und Rohrzucker und zog sich auf sein Zimmer zurück. Weder Tochter Minna noch der Schwiegersohn Ulfert – das nahm nicht Wunder, sie waren voll ausgelastet – wussten um seine Bemühungen, der Herkunft der teuren Schweizer Uhr auf die Spur zu kommen.
Der Kapitän setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte durch das Fenster in den mit dunklen Wolken bezogenen Himmel. Es regnete. Er vernahm das Schreien der Möwen, die im Wind hingen.
Das Dienstmädchen brachte ihm den Tee, mit Stövchen, Sahne- und Zuckerbecher.
»Danke«, sagte er, schob auch ihr einen Groschen in die Hand. Das Mädchen im langen Rock mit weißer Schürze machte einen Knicks und verließ das Zimmer. Der Kapitän war für seine Großmut bekannt. Er bediente sich mit Tee, fügte Zucker und Sahne hinzu, griff zur Pfeife, stopfte Tabak in den Porzellankopf, zündete den Tabak an und rauchte, trank Tee, öffnete das Kuvert und las die in ungeübter Schrift verfassten Zeilen.
Arle, den 12. Juno 1902.
Sehr geehrter Herr Kapitän Betten!
Ich tat mich schwer beim Tode meines geliebten Mannes Afke, der bei einem Unglück auf dem Walfängerschiff »Goode Wind« um sein Leben kam. Doch viel
schlimmer traf mich die Nachricht vom Tode meines Sohnes Pitt, der in einer fast peinlichen Situation an Bord Ihrer »Santana« in das Meer stürzte und
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