13 - Wo kein Zeuge ist
Schlagzeile, die den Mann als »verzweifelten Pflegevater« auswies, und die Story, die der Schlagzeile folgte, erzählte den Rest: All die Todesfälle in London, und endlich waren sie dahintergekommen, dass hier ein Serienmörder am Werk war.
Er spürte, wie er sich entspannte. Seine Hände wurden wieder warm, und er fühlte, wie die Krankheit in seinem Innern sich zurückzog, während er den Stapel Boulevardblätter liebevoll durchblätterte. Vielleicht reichten sie aus, dachte er.
Er setzte sich hin, zog den ganzen Stapel heran wie der Weihnachtsmann, der ein Kind umarmt. Wie seltsam war es doch, dachte er, dass ausgerechnet der letzte Junge - der lügende, leugnende und anklagende Sean, der Errettung und Erlösung verwirkt hatte, indem er sich halsstarrig geweigert hatte, seine Schuld zu gestehen - die Polizei zu der Erkenntnis gebracht hatte, dass sie es hier mit etwas zu tun hatten, das erhabener und größer war als ihre üblichen Fälle. Er hatte ihnen die ganze Zeit Hinweise geliefert, doch sie hatten sich geweigert, sie wahrzunehmen. Jetzt wussten sie Bescheid. Sie ahnten natürlich nichts von seinen Absichten, aber von seiner Existenz als einzelne und einzigartige Macht der Gerechtigkeit. Denen, die ihn suchten, immer einen Schritt voraus. Überlegen.
Er griff nach der letzten Ausgabe des Evening Standard und legte sie beiseite. Dann suchte er den Stapel durch, bis er den Mirror fand, auf dem ein Foto des Tunnels zu sehen war, wo er den letzten Leichnam hinterlassen hatte. Er verdeckte das Foto mit seinen Händen und betrachtete die restlichen Bilder auf der Titelseite: Polizisten, denn wer sonst sollte es sein? Und einer von ihnen namentlich genannt, sodass er nun wusste, wer seine Absichten zu durchkreuzen suchte und all die anderen in dem fruchtlosen Bemühen anführte, ihn von seinem gewählten Weg abzubringen. Lynley, Detective Superintendent. Der Name war leicht zu merken.
Fu schloss die Augen und beschwor ein Bild herauf, das eine Konfrontation zwischen ihm und diesem Lynley zeigte, allerdings keine, bei der er ihm allein gegenüberstand. Vielmehr war es eine Szene der Erlösung, in welcher der Detective zuschaute, unfähig, irgendetwas zu unternehmen, um den Zyklus von Strafe und Errettung zu unterbrechen, der sich vor seinen Augen vollzog. Das wäre doch etwas, dachte Fu. Das wäre ein Statement, das niemand - kein Brady, kein Sutcliffe, kein West oder sonst irgendwer - je zu machen gewagt hatte.
Fu sog die Freude, die dieser Gedanke ihm bereitete, in sich auf, in der Hoffnung, dass sie ihn dem Hochgefühl, das er in den finalen Augenblicken des Aktes der Erlösung empfand, nahe bringen würde, dem, was er die pure Ja-heit nannte. Er wollte, dass die Woge des Erfolgs ihn umspülte und dass das Bewusstsein des vollkommenen Seins ihn durchdrang. Er wollte, wollte, wollte die emotionale und sinnliche Explosion fühlen, die stattfand, wenn das Sehen und die Erfüllung zusammenprallten ... Bitte.
Doch nichts geschah.
Er öffnete die Augen, jeder Nerv vibrierte. Die Made war definitiv hier gewesen, hatte diesen Ort entweiht, und das war der Grund, warum es ihm nicht möglich war, jene Momente wiederzuerleben, in denen er lebendiger gewesen war als je zuvor.
Er konnte sich die Verzweiflung nicht erlauben, die ihn anzufallen drohte, also verwandelte er sie in Zorn und konzentrierte diesen Zorn auf die Made. Halt dich fern von hier, du Wichser, verschwinde, verpiss dich.
Doch seine Nerven vibrierten immer noch und sagten ihm, dass er auf diesem Weg niemals Frieden finden würde. Frieden konnte jetzt nur noch der Akt schenken, der eine weitere Seele der Erlösung zuführte.
Der Junge und der Akt selbst, dachte er.
Was vonnöten war, das würde geschehen.
Es regnete die nächsten fünf Tage. Ein heftiger Mittwinterregen, der einen zweifeln ließ, ob man die Sonne je wiedersehen werde. Am Morgen des sechsten Tages hatte das Unwetter sich fast gänzlich ausgetobt, doch die dräuenden Wolken verkündeten, dass sich das nächste bereits im Laufe des Tages zusammenballen werde.
Lynley fuhr nicht sofort zu New Scotland Yard, wie er es üblicherweise tat, sondern in entgegengesetzter Richtung zur A4 und aus der Londoner Innenstadt hinaus. Helen hatte ihm diesen Abstecher vorgeschlagen. Über ein Glas Orangensaft hinweg hatte sie ihn beim Frühstück angeschaut und gesagt: »Tommy, hast du schon mal erwogen, raus nach Osterley zu fahren? Ich glaube, das solltest du dringend tun.«
»Sind meine
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