13 - Wo kein Zeuge ist
bin ich. Der, den ihr sucht.«
Er wusste, wie die Welt funktionierte. Mit der Zunahme seines Bekanntheitsgrades stieg auch das Risiko. Das hatte er von Anfang an in Kauf genommen. Er hatte das Risiko sogar gesucht. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass das Verlangen in seinem Innern angefacht würde, nachdem seine Existenz entdeckt worden war, und langsam wurde er von diesem Verlangen verzehrt.
Er betrat die alte viktorianische Markthalle vom Leadenhall Place aus, wo das monströs moderne Gebäude des Lloyds of London ihm die Tarnung des Gewöhnlichen gewährte: Seine Anwesenheit hier würde niemandem verdächtig erscheinen, und falls eine der ungezählten Überwachungskameras auf dem Weg sein Bild einfing, würde niemand sich an diesem Ort und zu dieser Zeit etwas dabei denken.
Im Innern der Halle, unter dem Dachgewölbe aus Eisen und Glas, lauerten die großen Drachen in jeder Ecke. Sie hatten lange Klauen und rote Zungen, die silbernen Schwingen waren zum Flug geöffnet. Die alte, kopfsteingepflasterte Mittelgasse war für den Verkehr gesperrt, und die Geschäfte zu beiden Seiten boten ihre Waren den Londoner Büroangestellten ebenso an wie den Touristen, die diesen Markt in milderen Jahreszeiten auf dem Weg zum Tower oder der Petticoat Lane besuchten. Genau auf diese Kundschaft waren die Läden auch ausgerichtet: In schmalen Passagen gab es alles von Pizzastücken bis zu Ein-Stunden-Fotoläden, Wange an Wange mit Metzgern und Fischhändlern, die frische Ware für das abendliche Dinner verkauften.
Jetzt mitten im Winter war der Ort nahezu perfekt für das, was Fu plante. Abgesehen von der Mittagspause der Büroangestellten, war die Markthalle tagsüber so gut wie ausgestorben, und selbst abends, nachdem die Poller abmontiert wurden und die Mittelgasse für den Straßenverkehr frei gaben, fuhr nur gelegentlich ein Wagen hindurch.
Fu schlenderte durch die Markthalle auf dem Weg zu ihrem Haupteingang an der Grace Church Street. Die Läden hatten geöffnet, waren aber nur schlecht besucht. Am lebhaftesten ging es noch in der Lamb Tavern zu, hinter deren Buntglasscheiben man die Bewegungen der Gäste erahnen konnte. Vor dem Lokal war ein Schuhputzjunge bei der Arbeit: Er polierte die schwarzen Slipper eines Bankers, der eine Zeitung las, während sein Schuhwerk bearbeitet wurde. Fu warf einen Blick auf seine Zeitung, als er vorbeiging. Bei so einem Bürohengst erwartete man die Financial Times, doch er las stattdessen den Independent, dessen Titelseite eine Schlagzeile der Sorte trug, welche die seriösen Zeitungen in der Regel für Superdramen der Royals, politische Albträume oder Manifestationen göttlichen Zorns reservierten: »Nr. 6«. Das war alles. Darunter sah man ein körniges Foto.
Bei diesem Anblick verspürte Fu eine andere Art von Verlangen. Nicht jenes, das auf die Befriedigung seiner wachsenden Gier ausgerichtet war, sondern ein Verlangen, das ihn, hätte er über geringere Selbstbeherrschung verfügt, zu dem Banker und seiner Zeitung katapultiert hätte wie einen hungrigen Kolibri in den Kelch einer Blume. Um sich zu offenbaren. Verstanden zu werden.
Stattdessen wandte Fu den Blick ab. Es war noch zu früh, obschon er das gleiche Gefühl in sich spürte wie am gestrigen Abend, als er die Fernsehsendung über sich verfolgt hatte. Und wie eigenartig, dieses Gefühl beim Namen zu nennen, denn es war ganz und gar nicht das, was er erwartet hätte.
Zorn.
Die Hitze dieses Zorns versengte die Muskeln in seiner Kehle, bis er am liebsten geschrien hätte. Denn jener, der ihn in Wahrheit suchte, war nicht persönlich vor der Kamera erschienen, sondern hatte seine Handlanger geschickt, als sei Fu nichts weiter als eine Spinne, die er mühelos unter dem Absatz zertreten konnte.
Vor dem Fernseher hatte die Made ihn gefunden, war den Sessel hinaufgekrochen, in dem er saß, durch seine Nase eingedrungen und hatte sich hinter seinem Auge zusammengerollt, bis sein Blick unscharf wurde, hatte Posten in seinem Kopf bezogen, wo sie sich häuslich niederließ. Um ihn zu verhöhnen, es ihm zu zeigen ... erbärmlich, erbärmlich, erbärmlich, erbärmlich. Blöder kleiner Wichser. Ekliges kleines Ferkel.
Du meinst, du bist wer? Du meinst, du wirst jemals wer sein? Nutzloses Stück ... Wag nicht noch mal, das Gesicht abzuwenden, wenn ich mit dir rede.
Fu wollte sich losreißen, sich befreien, aber sie blieb.
Du willst Feuer? Ich zeig dir Feuer. Gib mir deine Hände. Ich sagte, gib mir deine
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