13 - Wo kein Zeuge ist
»Ich hab Hausarrest, Barbara. Bisher hatte ich keine Chance, dich anzurufen, denn ich darf noch nicht mal das Telefon benutzen. Dad sagt, ich habe ›bis auf weiteres‹ Hausarrest, und ich finde, das ist überhaupt nicht fair.«
»Mist«, murmelte Barbara und betrachtete das graue Kästchen, aus dem die Stimme ihrer kleinen Freundin erklang.
»Dad sagt, es ist, weil ich ihm widersprochen hab. Verstehst du, ich wollte die Buddy-Holly-CD eigentlich nicht zurückgeben. Und als er gesagt hat, ich müsste, hab ich gefragt, ob ich sie mit einem Zettel vor deine Tür legen kann. Und er hat gesagt, nein, ich müsste sie persönlich zurückbringen. Und ich hab gesagt, das fänd ich unfair. Und er hat gesagt, ich muss tun, was er sagt, und da ich das offenbar nicht wollte, würde er sich vergewissern, dass ich es ordentlich mache. Und darum ist er mitgekommen. Und dann hab ich gesagt, er ist gemein, gemein, gemein, und ich hasse ihn. Und er ...«
Es folgte eine kurze Stille, als lausche sie auf Geräusche im Hintergrund. Dann fuhr sie hastig fort: »Ich dürfte ihm überhaupt nie widersprechen, hat er gesagt, und dass ich jetzt Hausarrest hätte. Und ich darf das Telefon nicht benutzen und nicht fernsehen, ich darf gar nichts, außer zur Schule gehen und direkt nach Hause kommen, und das ist nicht fair.« Sie fing an zu weinen. »Muss Schluss machen. Bis bald«, brachte sie noch schluchzend heraus. Damit endete die Nachricht.
Barbara seufzte. Das hätte sie von Taymullah Azhar nicht erwartet. Er hatte selbst schon gelegentlich gegen geltende Regeln verstoßen: Er war aus einer arrangierten Ehe ausgebrochen und hatte zwei kleine Kinder verlassen, um mit einer englischen Frau zusammenzuleben, in die er sich verliebt hatte. Als Konsequenz war er von seiner Familie verstoßen worden, für alle Zeiten ein Paria in den Augen seiner Verwandten. Von allen Menschen auf der Welt wäre er der letzte gewesen, den Barbara für so unflexibel und nachtragend gehalten hätte.
Sie würde wohl ein Wörtchen mit ihm reden müssen. Strafen, fand sie, sollten dem Vergehen angemessen sein. Aber sie wusste, sie musste einen Ansatz finden, der nicht so aussah, als kritisiere sie ihn, wenngleich genau das ihre Absicht war. Nein, sie würde es als eher zufälliges Gesprächsthema tarnen müssen, was wiederum bedeutete, sie musste ein Eröffnungsthema für ihre Konversation finden, das eine natürliche Entwicklung hin zu Hadiyyah, Lügen, Hausarrest und uneinsichtigen Eltern erlaubte. Im Augenblick führte aber schon allein der Gedanke an all dieses verbale Taktieren dazu, dass Barbaras Kopf sich anfühlte wie ein Ballon, der mit zu viel Luft gefüllt war. Sie nahm sich vor, erst einmal einen glaubwürdigen Vorwand zu ersinnen, um mit Azhar zu sprechen, und öffnete ihre Bierflasche.
Es war gut möglich, dass sie heute Abend zwei Flaschen Bier trinken musste.
Fu traf die nötigen Vorbereitungen. Das dauerte nicht lange, denn er hatte im Vorfeld gut geplant. Nachdem der erwählte Junge sich als würdig erwiesen hatte, hatte er ihn beobachtet, bis er all seine Gewohnheiten und seinen Tagesablauf kannte. Als der richtige Zeitpunkt gekommen war, brauchte er nur noch eine schnelle Entscheidung bezüglich der Örtlichkeiten zu treffen, wo er letztlich zur Tat schreiten wollte. Er wählte den Boxclub.
Fu fühlte sich selbstsicher. Er hatte eine Stelle gefunden, wo er jedes Mal problemlos parken konnte, wenn er in der Gegend war. Dieser Parkplatz befand sich in einer Straße, wo auf einer Seite eine bemooste Ziegelmauer stand, die die Einfriedung einer Schule bildete, auf der anderen Seite lag ein dunkler Cricketplatz. Die Straße war nicht in unmittelbarer Nähe des Boxclubs, aber darin sah Fu kein Problem, denn das Entscheidende war, dass sein Parkplatz am Heimweg des Jungen lag.
Als der Junge den Boxclub verließ, wartete Fu bereits, auch wenn er ihr Treffen wie einen Zufall erscheinen ließ.
»Hey«, sagte Fu mit vorgetäuschter freudiger Überraschung. »Bist du's? Was machst du denn hier?«
Der Junge ging drei Schritte vor ihm, die Schultern wie üblich hochgezogen, den Kopf gesenkt. Als er sich umwandte, wartete Fu, bis der Junge ihn erkannte. Was befriedigend schnell geschah.
Der Junge schaute nach rechts und links, nicht so sehr, schien es, um einen Fluchtweg zu suchen, sondern als wolle er feststellen, ob noch jemand hier war und Zeuge wurde, dass diese Person an diesem Ort aufgetaucht war, wo sie so offenkundig nicht hingehörte. Aber
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