13 - Wo kein Zeuge ist
Thornes Tod war, sondern dass Jack Veness sie auch aus irgendeinem Grund nicht informiert hatte, als er zu ihr gegangen war. Offenbar hatte er ihr lediglich mitgeteilt, dass zwei Beamte von New Scotland Yard sie zu sprechen wünschten. Es war ein interessantes Versäumnis, fanden sie.
Ulrike Ellis war eine gut aussehende junge Frau um die dreißig, mit einer Unzahl kleiner, weizenblonder Zöpfe, die sie im Nacken zusammengefasst hatte, und genügend Messingarmreifen, dass sie als Der Gefangene von Zenda hätte durchgehen können. Sie trug einen dicken schwarzen Rollkragenpullover, Blue Jeans und Stiefel, und sie kam persönlich zum Empfang, um Lynley und Havers abzuholen. Während Jack Veness wieder hinter der Rezeption Platz nahm, führte sie sie einen Flur entlang, an dessen Wänden schwarze Bretter mit Bekanntmachungen aus der Nachbarschaft, Fotos junger Leute, Kursangeboten und Colossus-Events hingen. Als sie ihr Büro erreichten, nahm sie einen Stapel Big Issue vom Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch und legte die Zeitschriften in ein Regal voller Bücher und Akten, die dringend einmal abgelegt werden mussten. Doch der Schrank neben dem Schreibtisch quoll bereits über.
»Ich kaufe sie immer«, sagte sie mit Blick auf die Obdachlosenzeitschrift, »und dann finde ich nie die Zeit, sie zu lesen. Nehmen Sie sich ein paar mit, wenn Sie wollen. Oder kaufen Sie sie selbst?« Sie sah über die Schulter und fügte hinzu: »Ah. Na ja, jeder sollte sie kaufen, wissen Sie. Ich weiß schon, was die Leute denken: Wenn ich eine kaufe, wird dieser ungewaschene Penner den Profit ja doch nur für Drogen oder Alkohol verjubeln. Und wie soll ihm das weiterhelfen? Aber ich finde, die Leute müssen endlich aufhören, immer das Schlechteste zu denken, und sollten lieber ein bisschen Anteil nehmen, damit sich in diesem Land etwas ändern kann.« Sie schaute sich in ihrem Büro um, als sei sie auf der Suche nach weiterer Beschäftigung, und sagte: »Tja, viel hat das nicht gebracht, wie? Einer von Ihnen muss trotzdem stehen. Oder wollen wir alle stehen bleiben? Wäre das besser? Sagen Sie mir eins: Wird TO31 uns nun endlich zur Kenntnis nehmen?«
Während Havers zum Bücherregal schlenderte, um Ulrike Ellis' zahlreiche Bände unter die Lupe zu nehmen, erklärte Lynley, dass er und DC Havers keineswegs von der Abteilung für soziale Angelegenheiten kamen. Vielmehr hatten sie die Leiterin von Colossus aufgesucht, um mit ihr über Kimmo Thorne zu sprechen. Kannte Ms. Ellis den Jungen?
Ulrike setzte sich an ihren Schreibtisch. Lynley ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. Havers blieb beim Regal stehen und nahm eines von mehreren gerahmten Fotos in die Hand, die zwischen den Büchern standen. »Hat Kimmo etwas angestellt?«, fragte Ulrike. »Hören Sie, wir sind nicht dafür verantwortlich, wenn die Jugendlichen mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Wir behaupten ja auch nicht, dass wir das verhindern können. Colossus ist dazu da, ihnen Alternativen aufzuzeigen, aber manchmal wählen sie trotzdem die falschen Optionen.«
»Kimmo ist tot«, sagte Lynley. »Vielleicht haben Sie von dem Leichnam gelesen, der in St. George's Gardens drüben in St. Pancras gefunden wurde? Die Presse hat den Namen inzwischen veröffentlicht.«
Ulrike antwortete erst einmal nicht. Sie starrte Lynley lediglich gute fünf Sekunden an, ehe ihr Blick zu Havers glitt, die immer noch eines der Fotos betrachtete. »Bitte stellen Sie das zurück«, sagte sie mit vollkommen ruhiger Stimme. Sie löste das Band, das ihre Zöpfe zusammenhielt, und machte einen neuen, engen Knoten, ehe sie wieder sprach, und dann sagte sie lediglich: »Ich habe angerufen ... Sofort, als ich es erfahren habe, habe ich angerufen.«
»Sie wussten also, dass er tot ist?« Havers stellte das Foto so zurück, dass Lynley es sehen konnte: eine sehr junge Ulrike, ein alter Mann im Priesterornat, der möglicherweise ihr Vater war, und zwischen ihnen der farbenfroh gekleidete Nelson Mandela.
Ulrike antwortete: »Nein. Nein. Ich meinte nicht ... Als Kimmo am fünften Tag seines Einstufungskurses nicht erschien, hat Griff Strong das ordnungsgemäß gemeldet. Und ich habe Kimmos Bewährungshelfer sofort angerufen. So handhaben wir es, wenn einer unserer Schützlinge auf Anordnung des Gerichts oder des Jugendamtes hier ist.«
»Und wer ist Griff Strong?«
»Ein Sozialarbeiter. Er hat das studiert. Nicht alle Mitarbeiter bei Colossus sind Sozialarbeiter. Griff leitet einen unserer
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