130 - Das Mädchen mit den Monsteraugen
ein trockener Schwamm in sich aufgesogen, und es war nichts mehr von ihr zu sehen.
Vivian Mail überquerte die Terrasse und lief in den parkähnlichen Garten.
Zwischen den Zweigen konnte man weit ins flache Land sehen. In Whisinggale, einem winzigen Ort rund sechzig Meilen westlich von Louth, war es still und friedlich. Es war eine reine Siedlung. Die Farmen lagen außerhalb, die Wohnhäuser der Briten, die hauptsächlich hier lebten, ziemlich weit auseinander, so daß das Haus des nächsten Nachbarn sich dreihundert Meter entfernt befand.
Vivian Mail liebte die Stille und das Land. Sie war hier geboren, dies war ihre Heimat. Auch Edgar, ihr Mann, war kein Brite mehr, sondern Australier. Seine Eltern waren Einwanderer gewesen und hatten hart geschuftet, um über die Runden zu kommen.
Nicht minder schwer hatten ihre Eltern es gehabt, die seinerzeit England verließen, um sich auf dem Kontinent der Känguruhs eine neue Existenz zu schaffen. Vivians Eltern begannen mit dem Züchten von Schafen. Die Tierzucht florierte, und die Familie schuf sich schnell eine finanzielle Grundlage. Dann wurde Vivians Vater sehr krank, und mußte das meiste in andere Hände abgeben. Vivian verstand nichts von Schafzucht. Sie war absolut unfähig in praktischen Dingen und war ein musisch veranlagter Mensch, der am liebsten musizierte und malte.
Der Malerei gehörte ihre größte Liebe. Sie besuchte eine Akademie in Sidney und nahm Privatunterricht.
Aus dem Verkauf der Schaffarm erzielte Vivians Mutter großen Gewinn. Das Geld wurde angelegt, die kleine Familie lebte von den Zinsen.
Die Mutter zog nach Sidney, wo sie das Klima besser vertrug, Vivian reiste von ihrem zwanzigsten Lebensjahr an kreuz und quer durch das weite Land und erstellte mit Farbe, Pinsel und Leinwand ausgezeichnete Landschaftsporträts.
In vielen Häusern von Whisinggale und überall im Land war es keine Seltenheit, ein Bild von Vivian Mail zu finden. Sie war so etwas wie eine Heimatmalerin geworden. Die Reisen durchs ganze Land hatten sie mit vielen Menschen, auch Eingeborenen, bekannt gemacht. In einigen Dörfern war sie sogar längere Zeit geblieben, um sich mit dem Leben der Ureinwohner des Landes vertraut zu machen. Die kultischen und religiösen Bräuche hatten sie besonders interessiert, und sie hatte viele Szenen mit Pinsel und Bleistift festgehalten.
Dann lernte sie Edgar Mail kennen und verliebte sich in ihn. Sie gab ihre Karriere auf, malte nur noch nebenher und lebte deshalb seit neunzehn Jahren in Whisinggale. In dem Dachatelier waren in dieser Zeit Hunderte von Bildern entstanden. Viele aus der Erinnerung, andere anhand des dicken Skizzenbuches, das sie in all den Jahren regelmäßig und sauber geführt hatte.
Seit sich die Situation mit Bette zuspitzte, suchte sie wieder mehr Zuflucht in der Malerei und war manchmal den ganzen Tag unterwegs, um Abstand vom Alltag zu gewinnen und von den Sorgen, die sie wegen ihrer eigenartigen und eigensinnigen Tochter hatte.
Sie wollte dies auch in Zukunft verstärkt tun. Es zog sie nach draußen, wieder in die Weite. Aber da war Edgars Mutter ... Sie konnte unmöglich allein im Haus bleiben. Die Frau war alt und kränklich und unternahm nur noch kleine Spaziergänge in die Nachbarschaft.
Ed war als Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen und Geräte Tag für Tag unterwegs. Manche Touren führten ihn so weit ins Landesinnere, daß er manchmal eine Woche oder auch zwei überhaupt nicht nach Hause kam. Bette besuchte noch die Oberschule, war gut in Sprachen und wollte bei einer Import-Export-Firma als Auslandskorrespondentin anfangen.
Also blieb Vivian nichts anders übrig, als weiter im Haus tätig zu sein, damit die alte Frau nicht ganz allein war.
Alle diese Dinge gingen ihr in wenigen Sekunden durch den Kopf.
Vivian Mail wollte weiter durch den großen Garten gehen, frische Luft atmen und ihren Gedanken nachhängen, als sie plötzlich ein leise raschelndes Geräusch in den Büschen vernahm.
Wahrscheinlich hatte sie einen Vogel aufgescheucht.
Unwillkürlich wandte sie den Blick in die Richtung des Geräuschs.
Im gleichen Augenblick löste sich auch ein dunkler Schatten zwischen den Zweigen.
Aber das war kein Vogel!
Aus dem Busch - schälte sich ein Mensch.
Ein Eingeborener, einer der Ureinwohner, mit langem, dunkelbraunem Haar, verfilztem Bart und einer starken, nach vorn geschobenen Kieferpartie, wie sie typisch war für die Angehörigen dieser Rasse.
Schon die Anwesenheit der Gestalt
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