1307 - Die toten Frauen von Berlin
sich nicht bewegte!
Tot!, schrie es in ihr. Die Frau ist tot. Sie ist eine Leiche. Ich habe sie gefunden. Man hat mich zusammen mit einer Leiche eingesperrt. Mein Gott, das ist unfassbar.
Endlich schrie sie. Und sie verlor die Starre. Auf ihren feuchten Klamotten rutschte sie zurück. Wie sie auf die Füße gekommen war, wusste sie selbst nicht, aber sie lief schwankend zurück. Es waren nur kleine und auch wenige Schritte, bis sie rücklings gegen ein Hindernis stieß, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Eve Sandhurst verlor das Gleichgewicht. Zwar ruderte sie instinktiv mit den Armen, doch den Fall zurück hielt sie nicht auf.
Wieder landete sie am Boden, aber sie fiel weich und wusste plötzlich, dass sie auf einem weiteren Frauenkörper gelandet war…
***
Diesmal schrie sie nicht. Sie blieb einfach liegen. Unter sich die weiche und nackte Masse. Eve hatte das Gefühl, erstickten zu müssen, obwohl sie ein- und ausatmete, was ihr allerdings schwer fiel. In ihrer Brust blieb ein scharfes Brennen, und sie war nicht in der Lage, sich an etwas zu erinnern.
Wie lange es dauerte, bis sie sich wieder gefangen hatte, wusste sie nicht, denn sie hatte das Zeitgefühl verloren. Sie lag da, sie dachte an nichts, und als erste Reaktion begann sie, sich zu bewegen. Sie tastete wieder um sich.
Sie lag nicht nur auf einem Körper, sondern gleich auf zweien.
Vielleicht waren es drei, so genau war es in der Dunkelheit nicht festzustellen, aber die gespreizte Hand hatte dabei ein Gesicht getroffen, denn darauf stützte sie sich ab. Sie spürte das härtere Kinn und auch den Hals. Mit der anderen Hand drückte sie gegen einen Bauch, der nicht zu der Gestalt gehörte, auf deren Gesicht sie sich abstemmte.
Es war einfach nur grauenhaft. Ein Albtraum. Eingeschlossen zu sein mit Leichen. Etwas Furchtbareres konnte Eve sich nicht vorstellen.
Irgendwann rutschte sie vom kalten Fleisch der Toten weg und saß wieder auf dem normalen Boden. Sie weinte, sie holte Luft, und das eigene Keuchen störte sie dabei.
Eve wollte, dass alles nicht stimmte. Dass sie im nächsten Moment in ihrem Bett erwachte, doch leider war das kalte Fleisch der Toten keine Einbildung.
In ihrem Kopf stemmte sich trotzdem etwas gegen diese Vorstellung. Sie war so schlimm, dass sie es nicht akzeptierte und nach plausiblen Erklärungen suchte.
Es gab Kunststoffe, die der Haut von Menschen oder Leichen verblüffend glichen. Da musste sie nur an all die Filme denken. Da gab es auch keine echten Leichen, sondern Tote, die perfekt den echten nachempfunden waren.
Das konnte auch hier der Fall sein. Aber wie Gewissheit bekommen?
Der Zufall kam ihr zu Hilfe. Zwar trug sie kein Feuerzeug bei sich, doch nun, als ihr Verstand fast wieder normal arbeitete, dachte sie daran, dass sie sich beim Verlassen des Lokals eine kleine Schachtel mit Zündhölzern eingesteckt hatte. Wenn sie sich recht erinnerte, musste sie sich in der Manteltasche befinden.
Dort kramte sie nach.
Es war natürlich die falsche Tasche. In der linken fand sie die Schachtel. Sie hatte sich tief am Ende der Tasche versteckt. Als Eve sie hervorgezogen hatte, hörte sie das leise Rappeln der wenigen Zündhölzer. Es ging ihr nicht unbedingt besser, aber sie würde Gewissheit bekommen, und das endgültig.
Trotzdem zitterten ihre Hände, als sie das Unterteil der kleinen Schachtel hervorzog. Sie griff mit den Fingern hinein, holte ein Zündholz hervor und hielt es eisern fest.
Wenig später rutschte der Kopf über die Reibfläche hinweg. Die Flamme zuckte hoch, wurde auch nicht größer, tanzte nur etwas von einer Seite zur anderen und riss die Dunkelheit auf, als hätte jemand ein Loch in einen Vorhang geschnitten.
Sie konnte sehen – und sah!
Das Blut wurde zu Eis. Das Grauen potenzierte sich, denn irgendwie saß sie günstig. Die kleine Lichtinsel war zudem groß genug, um die beiden Gesichter der Frauen zu sehen, die nebeneinander am Boden lagen, und deren leblose Augen gegen die Decke starrten…
***
Die Flamme erlosch!
Mehr passierte nicht. Das leichte Brennen an ihren Fingerkuppen nahm Eve Sandhurst kaum zur Kenntnis. Sie saß auf dem Fleck und merkte nur, dass Tränen aus ihren Augen rannen und feuchte Spuren an den Wangen hinterließ.
Sie weinte. Sie schluchzte. Sie schüttelte den Kopf. Der Optimismus war verschwunden, denn nun stand für sie fest, dass die Leichen echt waren. Nicht künstlich. Von keinem Künstler erschaffen, sondern echte Tote.
Fünf Frauen waren in Berlin
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