1310 - Lost Hollywood
grundlos spürte sie die Bedrohung. Sie war vorhanden, das schon, aber sie war zugleich nicht zu fassen.
Justine hätte sie nicht konkretisieren können.
Im hinteren Teil des Fahrzeugs waren die Stimmen jetzt deutlicher zu vernehmen. Sie verstand nicht, über was sich die Menschen unterhielten. Es war leicht vorstellbar. Sie würden alle Angst in der Dunkelheit haben und auch versuchen, sich gegenseitig Mut zu machen.
Es blieb nicht bei den Stimmen, denn die Gefangenen versuchten jetzt, mit der Fahrerin Kontakt aufzunehmen. Sie taten es auf ihre Weise und hämmerten mit den Fäusten oder flachen Händen gegen die Trennwand. Die Echos der dumpfen Schläge waren zu hören, aber die Wand hielt den Bemühungen stand. Die schwarz gefärbten Fenster waren ebenfalls mit den bloßen Händen nicht einzuschlagen, und ein entsprechendes Werkzeug gab es nicht im hinteren Teil des Wagens. Das wusste sie genau.
Weit war es nicht mehr bis zum Ziel. Früher hatte die Straße hier schon an Breite zugenommen. In den letzten Jahren jedoch waren die Büsche und das Gestrüpp richtig gierig geworden und bildeten zu beiden Seiten der Fahrbahn dichte Wände.
Man war damals stolz auf das Tor gewesen. Ein großer Rundbogen hatte den Eingang des Geländes markiert. Den gab es zwar jetzt auch noch, aber er zeigte sich ebenfalls von der Natur angegriffen.
Das Metall hatte gelitten. Teilweise waren die Pflanzen wie Schlangenkörper an ihm hochgewuchert.
Fernlicht!
Es zerstörte die Dunkelheit. Es schickte seine hellen Strahlen in die Tiefe hinein, und es fand als Ziel nicht nur eine leere Fahrbahn, sondern auch die Fassaden der Häuser rechts und links.
Holz, das ebenfalls in den letzten Jahren gelitten hatte. Das abgeblättert war. Das manchmal aussah wie bleiche Knochen. Wer gute Augen besaß, der sah noch die verblichenen Aufschriften wie »Store«
»Hotel« oder auch die Werbung für Hamburger. Die einst bunten Reklameschilder waren ebenfalls verblichen und ausgewaschen.
Es war eine richtige Geisterstadt geworden, und der Name Lost Hollywood stimmte. Ein verlorenes Hollywood, ein vergessenes kleines Paradies, von dem sich einst eine Gruppe von Menschen so viel versprochen hatte.
Es gab allerdings nicht nur die eine Straße, sondern auch einige Seitengassen an der rechten und auch linken Seite. Zu Beginn sahen sie aus, als wären sie mit weiteren Bauten gefüllt worden. Das allerdings traf nicht zu. Schon nach wenigen Schritten hörten die Fassaden auf. Und hier waren es wirklich nur Fassaden, die durch schräg stehende, hölzerne Säulen und Pfeiler gehalten wurden. Sogar in den letzten drei Jahren hatten es Wind und Wetter nicht geschafft, die Stützbalken zusammenbrechen zu lassen.
Justine Cavallo fuhr in eine der linken Seitengassen hinein. Der Wagen rumpelte durch Schlaglöcher und über kleine Erhebungen hinweg. Sie hörte die Proteste der Gefangenen und grinste nur darüber. Das Meckern hatte keinen Sinn. Schon sehr bald würden sie sich wünschen, in einem derartigen Wagen transportiert zu werden. Das Schicksal, das Justine für sie ausgesucht hatte, war viel schlimmer.
Sie hielt an und stellte den Motor ab. Sie blieb für eine Weile in der absoluten Stille sitzen, denn auch die Gefangenen waren ruhig und lauerten darauf, was weiterhin passieren würde.
Sie mussten warten, bis Justine Cavallo ihren Sitz hinter dem Steuer verlassen hatte. Da aber klopften sie wieder gegen die Wände und fingen an zu schreien.
Justine kümmerte sich nicht darum. Sie bestimmte, wann sie die vier Personen rausholte. Sie sollten freikommen, das stand fest, aber sie würden sich ihr unterordnen müssen.
Die Heckklappe war natürlich verschlossen. Justine holte einen Schlüssel aus der Tasche ihrer Lederjacke. Gelassen schloss sie die Tür auf. Auch wenn alle vier Gefangenen sich auf einmal über sie stürzen würden, als Siegerin kam nur sie in Frage.
Beide Türhälften riss sie auf und freute sich auf das Bild, das sie zu sehen bekommen würde…
***
Sie waren da – alle vier!
Justine Cavallo betrachtete sie mit einem gewissen Wohlwollen, denn sie waren ihre Nahrung. Weder die Frauen noch die Männer zeigten sich in einem angetrunkenen Zustand. Die letzten Stunden hatten sie nüchtern werden lassen. Sie mussten sich auch gedanklich stark mit ihrer neuen Lage beschäftigt haben, und jetzt war ein anderes Gefühl hinzugekommen. Nun regierte die Angst bei ihnen. Im Licht der schwachen Innenbeleuchtung sahen sie aus wie Gespenster. Die
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