1311 - Die Teufelszunge
worden, aber nicht alle hatte es gleich getroffen, denn die dunkelhaarige Frau ließ sich nicht davon abhalten, auf das Podium zuzugehen. Sie hatte es beinahe schon erreicht und musste nur noch die Stufen hoch.
Er las in Bill Conollys Augen, dass der Reporter aufgrund seiner Lage ziemlich verzweifelt war. Wie gern wäre er aufgestanden und hätte den gleichen Weg genommen.
»Wer liegt dort auf dem Podium?«, fragte Klaus.
»John Sinclair.«
»Was?« Es dauerte nicht länger als zwei Sekunden, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.
Mit dem Namen Sinclair konnte er ebenfalls etwas anfangen. Er war hier in London bekannt. Er trug den Spitznamen Geisterjäger, und Klaus erinnerte sich wieder daran, dass er und Bill Conolly hin und wieder so etwas wie ein Team bildeten. Beide waren befreundet. Das hatte sich herumgesprochen. Beide versuchten oft genug, Fälle gemeinsam zu lösen, und so musste es auch hier gewesen sein.
Aber Sinclair war ausgeschaltet. Es hatte ihn erwischt. Er würde nicht mehr eingreifen können. Das mussten andere an seiner Stelle übernehmen. Klaus traute der dunkelhaarigen Frau ja einiges zu, nicht aber, dass sie es schaffte, die Lage zu verändern. Da mussten mehr eingreifen. Diese Marisa war keinesfalls so harmlos wie sie wirkte.
»Willst du zu John?«
»Das fragst du noch?«
»Dann komm!«
Bill verzerrte sein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal, das habe ich versucht. Ich schaffe es nicht. Ich bin zu schwach. Ich bin von der Rolle. Ich habe die Menschen hier als Skelette gesehen, und deshalb kann…«
Der Fotograf überhörte die Worte. Er sah nur das Ziel und dachte an seine Geschichte.
»Wir packen es. Wir schaffen es gemeinsam. Du und ich. Los, ich werde dir helfen.«
Die Worte waren für den Reporter ein reiner Balsam. Sie trieben ihn an, und er nickte Klaus zu.
Der blieb keine Sekunde länger auf seinem Stuhl sitzen. Er schwang sich hoch und trat an Bills Seite. Beide Hände legte er in die Achselhöhlen des Reporters und zog ihn hoch. Auf den eigenen Beinen stand Bill Conolly schwankend. Er fluchte dabei über seine eigene Schwäche.
Das nahm Klaus, der Knipser, nicht zur Kenntnis. »Ausruhen kannst du dich später. Jetzt musst du mit.«
Und Bill Conolly ließ sich abführen wie ein kleiner Junge von seinem Vater…
***
Der Schacht war da, und seine Tiefe hatte mich regelrecht gefressen. Bei mir waren plötzlich die Lichter erloschen. Ich hatte noch gespürt, dass ich fiel, dann war es vorbei gewesen.
Zum Glück nicht für immer.
Es kam die Zeit, in der ich erwachte oder vom Grund des Schachts wieder in die Höhe schwebte. Schweben war genau der richtige Ausdruck, denn ich hatte einen Zustand erreicht, in dem ich mich so leicht und wie von Gedanken getragen fühlte, wobei sie die Funktionen meines Körpers übernommen hatten.
Ich glitt höher. Ich war fast zu einem Engel geworden. Nur dass mir die Flügel fehlten, und ich empfand diesen Zustand als angenehm. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und er gewöhnt sich an die positiven Dinge besser als an die negativen.
Hier war für mich alles positiv. Ich schwebte. Ich hatte keine Probleme. Ich tanzte auf irgendwelchen Wolken, und dies alles fernab von der Realität. Es gab niemanden, der mich angriff und der mir Böses wollte. Es war einfach ein wunderbares Gleiten hinein von einer Sphäre in die nächste.
Und dann war ich oben – und bekam mich selbst wieder zu spüren. Ich war auf meine rechte Schulter gefallen. Der Arm klemmte unter meinem Körper fest, aber nicht nur körperlich war ich wieder präsent, auch geistig. Und so trafen mich die Erinnerungen.
Sie bestanden zunächst nur aus wirren Bildern, die ein völlig durcheinander geratenes Puzzle bildeten. Da mussten sich die Stücke zuerst zu einem Bild zusammenfügen.
Ich half dabei mit. Ich kramte in meinen Erinnerungen nach. Ich wusste plötzlich, dass ich nicht allein unterwegs gewesen war.
Glenda Perkins und Bill Conolly hatten mich zu dem Konzert eines Superstars der Trompete begleitet.
Das war alles völlig normal gewesen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Umgebung verändert hatte.
Wie ein Geist war eine Frau erschienen. Eine mit rötlichen Haaren, die zudem noch nackt war.
Aber sie war keine normale Frau, auch wenn sie so ausgesehen hatte. Sie konnte nicht als Mensch angesehen werden, denn in ihr steckten Kräfte, die so leicht nicht zu erklären waren.
Ich hatte mit ihr gesprochen, ihr Fragen gestellt. Ich hatte sie sogar
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