1315 - Das Lied von Blut und Tod
Wir werden bald Besuch erhalten, und dann geht es richtig los.«
»Besuch? Von wem?«
»Du wirst es sehen.«
»Warum kenne ich ihn nicht?«
»Weil er sich nur mit mir unterhalten hat. Aber er kommt. Er liegt auf der Lauer.«
»Wann erscheint er?«
Mike schaltete jetzt die Scheinwerfer an, weil sie das Dorf durchfahren hatten. »Es kann sein, dass er uns bereits heute Nacht besucht. Und das wäre mehr als super.«
»Ich bin gespannt.«
»Das darfst du auch. Ich liebe die Zukunft!«, flüsterte Mike gegen die Scheibe, »denn ich will noch lange mit ihr zusammen sein.«
Da konnte Mona nicht widersprechen.
***
Die Scheinwerfer erloschen, und so wurde auch der letzte Vorhang aus Licht genommen, und die Dunkelheit der Nacht hatte wieder freie Bahn, um ihren Schleier auszubreiten.
Sie waren am Ziel.
Mike schaute auf seine Uhr. »Eine gute Zeit.«
»Warum sagst du das?«
»Weil noch nicht Mitternacht ist.«
»Aha. Und dann soll der Besuch kommen?«
Er hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht so genau sagen. Wir müssen ab Mitternacht mit ihm rechnen.«
»Sind wir denn allein?«
Mike überlegte einen Moment. »Ich denke schon.«
»Und was ist mit Vanessa?«
»Sie könnte da sein.«
Mona konzentrierte sich. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich höre sie nicht.«
»Sie spielt nicht immer.«
»Ah ja.« Sie tippte ihren Bruder an, um ihn am Aussteigen zu hindern. »Du bist noch immer geil auf sie, wie?«
»Ja.«
»Komisch. Vanessa wäre nie mein Typ. Sie ist mir zu ätherisch. Aber du musst es wissen.«
»Außerdem spielt sie gut Geige. Und sag nicht, dass du ihre Musik nicht liebst.«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Eben.«
Die Geschwister stiegen aus, was nicht so einfach war, denn beim Öffnen der Türen erlebten sie den Gegendruck der Zweige. Um den Pick-up geschützt zu wissen, hatte Mike ihn praktisch in ein Gebüsch gefahren, das zusätzlich noch von den mit Laub gefüllten Dächern zweier Eichenbäume geschützt wurde.
Ihre Fahrt war glatt verlaufen. Ohne Probleme hatten sie ihr Versteck erreicht. Es lag nicht inmitten der Stadt, sondern nahe der großen Kläranlage, die hin und wieder stank, wenn der Luftdruck besonders tief war. Hier hatten sie ihr kleines Haus gefunden, das natürlich nicht mehr bewohnt war.
Eine Kapelle. Ihre Vampir-Kapelle!
Es war etwas übertrieben, aber Mike hatte ihren Schlupfwinkel so getauft, weil er Ähnlichkeit mit einer Kapelle aufwies. Es gab sogar einen kleinen Turm, in den man hineinsteigen konnte. Also war der Begriff Kapelle nicht so falsch.
Von der Kläranlage, in der auch Menschen arbeiteten, war sie nicht zu sehen, denn zwischen dem Werk und der Kapelle wuchs ein dichter Grüngürtel, der jetzt, im Mai, schon so richtig dicht geworden war, was den Geschwistern natürlich entgegenkam.
Es gab nur einen Schlüssel zu diesem Bau, und den trug Mike Delano bei sich. Er gab ihn nie aus der Hand, das jedenfalls glaubte seine Schwester. Da irrte sie, denn Mike hatte einen Zweitschlüssel anfertigen lassen und ihn Vanessa übergeben. Sie war die einzige Person außer Mona, der er vertraute.
Auch jetzt bewegte er sich vorsichtig auf das dunkle Gebäude zu.
Misstrauen gehörte zu seiner Natur. Und nicht nur das, es stand sogar an erster Stelle.
Weder ihm noch seiner Schwester drohte eine Gefahr. Es hielten sich keine Menschen in der Nähe auf, die sie hätten beobachten können. Wie auch? Die nächste Station war das Klärwerk jenseits des Buschgürtels. Zwischen ihm und dem Betrieb führte noch eine Straße entlang. Die aber lag in der Nacht so still wie eine schlafende Schlange.
Dicht vor der Tür verharrte er. Mona stand hinter ihm. Er spürte die Berührung ihres Körpers und hörte auch ihr kehliges Lachen.
»Was hast du?«
»Ich könnte wieder…«
»Nein, hör auf! Kein Beutezug in der Nacht. Ist das klar?«
»Ja, ja, schon verstanden, schließ endlich auf.«
Das tat Mike. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum. Er lauschte dabei dem knirschenden Geräusch, und auch die Tür schleifte noch über den Boden, als er sie so weit wie möglich aufzog. Sie war nicht sehr hoch. Er musste schon ein wenig den Kopf einziehen, um die Kapelle betreten zu können.
Er blieb noch stehen.
Er schaute in die Dunkelheit.
Er atmete tief durch.
Mike Delano war völlig zufrieden, denn vor ihm lag seine wunderbare Welt.
***
Es gab einen Mann, der in dieser Nacht nicht zufrieden war und auch nicht im Bett lag.
Dieser Mann war
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